Das Opfer
kleinen Prozentsatz, und um die ging es nicht. Ich sage es noch einmal: Die Leute wussten es. Und zwar alle. Als wir bei ihnen auf der Matte standen, hatten sie nur auf uns gewartet und sich wasserdichte Alibis verschafft. Das stinkt. Das stinkt zum Himmel. Und da liegt der Hase im Pfeffer, nicht wahr?«
Ich stand auf.
»Sind Sie an einem echten Krimi interessiert?«, fragte der Hauptkommissar, während er mir die Hand schüttelte und hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. »Nun, dann lösen Sie dieses Rätsel für mich.«
Auch wenn ich den Mund hielt, wusste ich im selben Moment die Antwort.
27
Der zweite Übergriff
Hope hasste die Ruhe.
Sie merkte, dass sie rastlos das letzte Training der Saison absolvierte und sich auf den Winter vorbereitete. Sie war ständig gereizt, aber nicht in der Lage, ihre Gefühle einzuordnen. Sie stellte fest, dass sie die Pfade des Campus entlanghetzte, obwohl eigentlich keine Eile geboten war. Sie erlebte, wie sie plötzlich eine trockene Kehle bekam, wie sie sich die Lippen lecken musste oder eine schwere Zunge hatte, so dass sie literweise Wasser trank. Mitten in einem Gespräch stellte sie fest, dass sie von dem, was gesagt worden war, nicht viel mitbekommen hatte. Die Angst hatte sie im Griff, und während ein Tag um den anderen verging, ohne dass etwas Schlimmes passierte, malte sie sich aus, wie anderswo ungleich Schrecklicheres geschah.
Nicht einen einzigen Moment lang glaubte sie daran, dass Michael O’Connell aus ihrer aller Leben verschwunden war.
Scott hatte sich, soweit sie es beurteilen konnte, mit Feuereifer in seine Lehrtätigkeit gestürzt. Sally hatte sich wieder ihren anstehenden Scheidungsfällen und Geschäftsaufgaben gewidmet, während sie sich zufrieden auf die Schulter klopfte, weil sie selbst eine Lösung gefunden und die Sache zu einem guten Ende geführt hatte. Und Hope und Sally hatten sich wieder in die Détente ihres Kalten Kriegs geflüchtet, die ihre Beziehungkennzeichnete. Auch der letzte Rest an Zärtlichkeit war verflogen. Es gab nie eine Liebkosung, ein Kompliment oder ein Lachen und schon gar nicht eine Berührung, die zum Sex einlud. Man hätte meinen können, sie seien zu Nonnen geworden, die unter einem Dach zusammenlebten, die zwar das Bett miteinander teilten, aber mit irgendeinem Ideal im Jenseits vermählt waren. Hope fragte sich, ob Sallys letzte Monate mit Scott genauso verlaufen waren. Oder hatte sie den Schein gewahrt und mit ihm geschlafen, hatte Leidenschaft vorgetäuscht, ihm Essen gekocht, den Haushalt versorgt und mit ihm geplaudert, während sie immer wieder zu unmöglichen Zeiten verschwand, um sich mit Hope zu treffen und ihr zu sagen, ihr Herz gehörte ihr?
In der Ferne hörte Hope Stimmen von den Spielfeldern. Nachspielzeit, dachte sie. Nur noch ein Spiel. Zwei bis zum Halbfinale. Sie konnte sich kaum auf die Spiele konzentrieren, sondern steckte in einem Morast an Gefühlen – zu Ashley, zu Michael O’Connell, zu ihrer Mutter und vor allem zu Sally, um die sich alles zu einer einzigen Aussichtslosigkeit zusammenbraute.
Im Gehen dachte sie daran, wie sie Sally kennen gelernt hatte. So einfach sollte Liebe immer sein. Man trifft sich bei der Eröffnung einer Kunstgalerie, man redet. Man macht einen Scherz und hört den anderen lachen. Man beschließt, noch auf ein Glas zusammenzubleiben. Dann lädt man sich zum Essen ein. Noch einmal, mitten am Tag. Schließlich eine zarte Berührung der Hand, ein Flüstern, ein Blick, und alles geht seinen Gang, so wie es Hope vom ersten Moment vorausgesehen hatte.
Liebe
, dachte sie. Michael O’Connell phantasierte ständig davon, während Hope das Wort seit Wochen nicht mehr in den Mund genommen hatte. Vielleicht sogar seit Monaten. Ashley hatte ihr erzählt, dass er behauptete, er liebte sie. Nichts vonseinem Verhalten – da zweifelte Hope keinen Moment – hatte auch nur das Geringste mit Liebe zu tun.
Sie zog die Schultern ein.
Er ist weg, sagte sie sich.
Sally sagt, er ist weg.
Scott sagt, er ist weg.
Ashley glaubt, er ist weg.
Hope glaubte es nicht.
Umgekehrt konnte sie nicht einen einzigen konkreten Anhaltspunkt dafür finden, dass er zurückgekehrt war.
Sie hörte Stimmen, und sie sah, wie die Mädchen ihrer Mannschaft winkten, ihre Runden liefen und miteinander plauderten, sich schließlich in der Mitte des Spielfelds zusammenscharten. Sie griff nach der Pfeife an der Kordel um ihren Hals, beschloss jedoch, ihnen noch ein, zwei Minuten ihren Spaß zu
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