Das Opfer
lassen. Die Zeit, in der sie jung waren, ging so schnell vorbei, sie sollten jede Minute genießen. Nur wusste sie ebenso gut, dass junge Leute das niemals begreifen würden.
Sie seufzte, pfiff das Spiel ab und beschloss, täglich mit ihrer Mutter und mit Ashley zu telefonieren, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war. Sie fragte sich, wieso Scott und Sally es nicht auch so hielten.
Sally starrte auf die Schlagzeile der Spätausgabe und merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie verschlang jedes Wort des Artikels, las ihn noch einmal, prägte sich Einzelheiten ein. Ex-Cop ermordet auf der Straße gefunden. Als sie das Blatt weglegte, merkte sie, dass sie Druckerschwärze an den Händen hatte. Erstaunt betrachtete sie ihre Finger, bis ihr bewusst wurde, wie ihr bei der Lektüre der Schweiß ausgebrochen war, so dass die Farbe an ihrer Haut haftete.
Mord oder Hinrichtung?
Die Worte hallten in ihrem Bewusstseinnach und ließen sich nicht verdrängen.
Die Polizei überprüft eine mögliche Verbindung zum organisierten Verbrechen
.
Das Erste, was sie sich einhämmerte, war: Das hat nichts mit Ashley zu tun.
Sie wankte zurück, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt – es hat entschieden mit Ashley zu tun.
Ihr erstes Bedürfnis war, jemanden anzurufen. Als Anwältin kannte sie zahlreiche Kollegen mit einem guten Draht zur Bezirksanwaltschaft. Einer von ihnen musste doch Genaueres wissen. Insiderinformationen, die ihr ein besseres Bild verschafften. Mit einer Hand griff sie nach ihrem Rolodex, mit der anderen nach dem Telefon. Dann zögerte sie. Was machst du da?
Sie atmete tief durch. Hol dir nicht freiwillig Leute ins Haus, die dein Leben unter die Lupe nehmen. Jeder Staatsanwalt, der auch nur am Rande mit dem Mord an Murphy zu tun hatte, würde ihr bedeutend mehr Fragen stellen als Auskünfte geben. Mit diesem Anruf würde sie sich und ihre Probleme mit einer Situation vermengen, aus der sie sich lieber raushielt.
Sally hustete. Sie hatte Murphy vorgeschickt, damit er sich Michael O’Connell vorknöpfte. Er hatte ihr einen Erfolgsbericht geschickt. Problem gelöst. Alle in Sicherheit. Ashley könne wieder ein normales Leben führen. Und wenig später ist Murphy tot. Sie konnte keinen Sinn darin sehen. Es war, als hätte man einen berühmten Mathematiker, einen Einstein, vor sich, der 2 + 2 = 5 an die Tafel schreibt, und niemand stellt es richtig.
Sie schnappte sich die Zeitung und las jedes Wort zum dritten Mal durch.
Nichts ließ darauf schließen, dass Michael O’Connell irgendetwas damit zu tun hatte.
Es schien das Werk eines Profis zu sein. Offensichtlich ging es auf das Konto von ein paar wirklich üblen Burschen, denen Murphy in die Quere gekommen war. Dieser Mord überstieg die Fähigkeiten eines Mechanikers, Computerfreaks, Gelegenheitsstudenten und Kleinkriminellen von der Sorte Michael O’Connells, redete Sally sich trotzig ein. Das hatte nicht das Geringste mit ihnen zu tun, und es wäre ein Fehler, etwas anderes zu vermuten.
Sie lehnte sich auf ihrem Schreibtischsessel zurück und atmete schwer.
Nein, wir sind alle in Sicherheit. Das ist Zufall. Sein Tod hatte nichts mit ihrer Situation zu tun. Schließlich war ihre Wahl auf Murphy gefallen, weil er bereit war, hier und da das Gesetz etwas großzügiger auszulegen. Und bei all den anderen Fällen war er zweifellos noch ganz anders zur Sache gegangen und hatte sich überall Feinde gemacht. Einer davon hatte sich schließlich gerächt, das musste es sein.
Sie atmete langsam aus. Nein, das eigentliche Problem bestand darin, dass die Drohungen, mit denen Murphy O’Connell in Schach gehalten hatte, sich nunmehr in nichts aufgelöst hatten. Das war die größte Gefahr, der sie sich gegenübersahen. Natürlich setzte dies voraus, dass Michael O’Connell von Murphys Ermordung wusste und darin seine Chance erkannte.
Unhaltbare Spekulationen, sagte sie sich. Dennoch griff sie nach dem Telefon. Sie hasste das, sie hasste den Gedanken, dass es so aussehen musste, als hätte sie bei ihrem Teil der Abmachung versagt, doch ihr war klar, dass sie dennoch ihren Exmann anrufen musste.
Sally wählte Scotts Nummer und merkte, wie sie erneut zu schwitzen begann.
»Hast du die Zeitung gelesen?«, fragte Sally unvermittelt.
Als Scott Sallys Stimme in der Leitung hörte, war er zunächst irritiert.
»Die
New York Times?
«, fragte er kurz angebunden zurück, obwohl er wusste, dass sie ein anderes Blatt meinte. Es war genau
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