Das Opfer
zwischenden beiden Schüssen einige Zeit – mindestens dreißig Sekunden, vielleicht sogar eine Minute – vergangen war.
O’Connells Vater hatte selbst die Polizei verständigt.
Als die Beamten eintrafen, fanden sie die Mutter mit einer Wunde in der Brust, die von einem Schuss aus nächster Nähe stammte, tot auf dem Boden, während eine zweite Kugel in die Decke gedrungen war. Der Junge kauerte in einer Ecke, und der Vater, dessen Gesicht voller roter Kratzspuren war, hielt eine Pistole, Kaliber .38, mit kurzem Lauf in der Hand. Die Geschichte des Seniors war einfach: Sie hätten getrunken und sich dann wie gewöhnlich gestritten, nur dass sie diesmal den Revolver gezogen hätte, den er in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Er könne nicht sagen, wie sie an den Schlüssel gekommen sei. Sie hätte gedroht, ihn zu erschießen. Gesagt, er habe sie einmal zu oft geschlagen und jetzt sei er dran. Er aber sei wie ein wild gewordener Stier mit wenigen Sätzen bei ihr gewesen, hätte sie angeschrien und gebrüllt, sie sollte es ja nicht wagen. Er hätte ihre Hand gepackt. Es sei zu einem Handgemenge gekommen. Der erste Schuss, der sich löste, sei in die Decke gegangen, der zweite in ihre Brust.
Ein Handgemenge. Zu viel Alkohol. Ein Unfall.
Das war seine Version, zumindest nach Aussage der Bibliothekarin.
Natürlich hatte sich die Polizei sofort gefragt, ob nicht vielmehr O’Connells Vater die Waffe gezückt hatte und die Mutter um ihr Leben kämpfte. Mehr als ein Ermittler sah sich die Fotos vom Tatort an und hielt es für wahrscheinlich, dass sie seine betrunkenen Zudringlichkeiten abgewehrt und in einem verzweifelten Versuch, den Schuss abzulenken, den Pistolenlauf gepackt hatte. Der Schuss in die Decke war dann nachträglich gefallen, um die Version des Vaters zum Tathergang glaubhaft erscheinen zu lassen.
Und in dieser verwirrenden Situation, in der es zwei mögliche Erklärungen gab – die der Notwehr und die von einem primitiven Mord unter Alkoholeinfluss –, konnte allein der Junge die Antwort liefern.
Bestätigte er die eine Wahrheit, dann käme sein Vater ins Gefängnis und er selbst ins Heim. Bezeugte er die andere, dann würde sein Leben – das einzige, das er kannte – so weitergehen wie bisher, abzüglich der Mutter.
Scott glaubte, dass dies der einzige Moment war, in dem er jemals so etwas wie Mitleid mit O’Connell empfand, und auch das nur im Nachhinein, in Bezug auf Ereignisse vor annähernd fünfzehn Jahren.
Einen Augenblick lang fragte er sich, was er getan hätte, und er begriff, dass die Wahl zwischen zwei Schrecken in Wahrheit keine Wahl ist. Der Teufel, den man kennt, macht einem weniger Angst als der unbekannte.
Also hatte der junge O’Connell die Geschichte seines Vaters bestätigt.
Sah er zuweilen in seinen Alpträumen, wie seine Mutter erschossen wurde? Wie sie um ihr Leben kämpfte? Brannte sich ihm jeden Morgen, den er erwachte und an dem sein Vater ihn argwöhnisch beäugte, eine schreckliche Lüge ein?
Scott fuhr zurück und stellte den Wagen vor dem Haus der O’Connells ab. Dort ist alles beisammen, alles, was einen Menschen zum Mörder macht.
Scott verstand nicht viel von Psychologie – auch wenn er wie jeder Historiker begriffen hatte, dass zuweilen große Ereignisse große Emotionen auslösten. Immerhin sah er, was jeder Hobby-Freudianer gesehen hätte: wie O’Connells Vergangenheit seine Zukunft gefährdete. Und während sich sein Atem beschleunigte, wusste Scott, dass das einzig Unumgängliche in O’Connells Leben Ashley war.
Wird er Ashley genauso leichtfertig töten wie sein Vater seine Mutter?
Scott hob den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Elternhaus ihres Widersachers. Während er hinüberstarrte, entging ihm die Gestalt, die aus dem Schatten eines nahen Baumes trat, so dass er erstaunt zusammenzuckte und Herzklopfen bekam, als es energisch an der Fensterscheibe klopfte.
»Steigen Sie aus!«
Dies war eine Aufforderung, die keinen Kompromiss duldete. Scott sah verwirrt auf und blickte in das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes mit krummer Nase, das sich fast an die Scheibe drückte. In einer Hand hielt der Mann den Stiel einer Axt. »Steigen Sie aus!«, wiederholte er.
In Panik wollte Scott den Gang einlegen und aufs Gaspedal drücken, doch er tat es nicht. Der Mann holte aus wie ein Schlagmann, der die Flugbahn des Effetballs abschätzt. Scott atmete tief ein, schnallte den Sicherheitsgurt ab und öffnete die Tür.
Der Mann sah ihn,
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