Das Opfer
die Waffe immer noch gezückt, mit einem gefährlichen Ausdruck an.
»Sind Sie der Kerl, der die Leute über mich ausfragt?«, herrschte er ihn an. »Wer zum Teufel sind Sie? Und wie wär’s, wenn Sie mir verraten würden, wieso Sie sich so mächtig für mich interessieren, bevor ich Kleinholz aus Ihnen mache?«
Sally drehte sich zu ihrem Computer um und erkannte, dass ihr Vorhaben sie belasten würde. Sie griff in ihre Schreibtischschublade und zog einen alten gelben Kanzleiblock heraus. Eine Computerdatei mit den Einzelheiten eines noch unbestimmten Verbrechens anzulegen wäre ein Fehler gewesen. Sie mahnte sich, rückwärts zu denken – ungefähr so, wie es Ermittler tun. Ein Blatt Papier konnte man vernichten. Es war sowie ein Spaziergang am Strand; Fußspuren oberhalb der Flutlinie konnten lange halten. Alles unterhalb davon spülten die Wellen weg.
Sie biss sich auf die Lippe und griff nach einem Bleistift.
Oben auf die Seite schrieb sie
Motiv
.
Es folgte eine zweite Kategorie:
Mittel
.
Und wohl oder übel eine dritte:
Gelegenheit
.
Sally starrte auf die Worte. Sie bildeten die heilige Dreifaltigkeit der Polizeiarbeit. Fülle diese Lücken aus, und in neun von zehn Fällen weißt du, wen du verhaften und unter Anklage stellen musst. Und in ebenso vielen Fällen auch, wer rechtskräftig verurteilt wird. Ein Strafrechtsverteidiger hatte in diesem Fall leichtes Spiel: Wie bei einem dreibeinigen Schemel fiel das Ganze in sich zusammen, wenn man ein Bein absägte. Jetzt versuchte sie, selbst ein Verbrechen zu planen und vorherzusagen, wie man bei diesem Fall ermitteln würde. Sie wählte stets Euphemismen.
Straftat
oder
Vorfall
oder
Ereignis
. Sie scheute sich vor dem Begriff Mord.
Sie fügte eine vierte Überschrift hinzu:
Kriminaltechnische Untersuchung
.
Damit konnte sie arbeiten, dachte sie. Sally machte sich daran, aufzulisten, wie sie sich verraten könnten. DNA-taugliches Material – also Haar, Haut und Blut – durften sie auf keinen Fall zurücklassen. Ballistik – falls sie zu einer Schusswaffe greifen mussten, dann zu einer, die nicht bis zu ihnen zurückverfolgt werden konnte. Oder aber sie mussten sie so sicher loswerden, dass sie niemals gefunden werden konnte, und das ging eigentlich nur, wenn man sie ins Meer warf. Es gab noch eine Fülle anderer Fragen. Kleiderfasern, verräterische Fingerabdrücke, Fußspuren auf weichem Grund, Reifenspuren. Zeugen, die jemanden kommen oder gehen sahen. Überwachungskameras. Und sie konnte sich keinesfalls sicher sein, dass nicht einer vonihnen – Scott, Ashley, Hope oder Catherine – sich verraten würde, wenn ihnen ein Kommissarenduo gegenübersaß, von dem grundsätzlich einer den guten und einer den bösen Cop mimte. Sie würden vielleicht versuchen, ihnen eine Geschichte aufzutischen oder, schlimmer noch, glattweg zu lügen, was fast immer schiefging, und damit die Übrigen ebenfalls ans Messer liefern. Sollte jemals auch nur einer von ihnen im Vernehmungszimmer landen, war von vornherein alles aus.
Sie mussten das, was zu tun war, vollkommen anonym erledigen. Selbst für jemanden, der genau hinsah, musste es auf eine Spur verweisen, die mit Ashley nicht das Geringste zu tun hatte.
Je mehr Sally dies alles bedachte, desto schwerer erschien das Ganze. Sie hatte vor Augen, dass alles, was sie sich aufgebaut hatten, zunichte würde – nicht nur ihre berufliche Arbeit, die sie vernachlässigt hatte, sondern auch ihre Partnerschaft und letztlich ihr ganzes Leben. Es war, als ob durch die Gefährdung Ashleys auch alle anderen Sicherheiten schwänden.
Sally schüttelte den Kopf. Sie betrachtete das Blatt und fühlte sich plötzlich an Klausuren beim Jurastudium erinnert. In gewisser Weise war das hier dasselbe. Nur dass es diesmal nicht um einen Abschluss ging, wenn sie scheiterte, sondern um ihrer aller Zukunft.
Sie machte sich eine Notiz:
diverse Paar OP-Handschuhe besorgen
.
Das würde zumindest ihre DNA und Fingerabdrücke reduzieren, wenn sie erst einmal wussten, was sie unternehmen würden.
Sie machte sich eine zweite Notiz:
zum Heilsarmee-Laden gehen und Kleider besorgen. Schuhe nicht vergessen
.
Sally nickte. Was es auch ist, du schaffst das.
Der widerwärtige Mann, den Catherine und Ashley treffen wollten, stand neben der Tür seines zerbeulten Geländewagens, rauchte eine Zigarette und scharrte wie ein ungeduldiges Pferd mit dem rechten Fuß. Catherine erkannte sofort seine rotschwarze Jagdjacke und die Abzeichen der National
Weitere Kostenlose Bücher