Das Orakel der Seherin
und geh mit dem Licht. Ich werde hier auf dich warten. Ich werde hier sein, wenn du zurückkommst.«
Ich umarmte sie. »Ich schulde dir so viel. Vielleicht kann ich dir heute nacht wenigstens etwas davon zurückzahlen.«
Zwanzig Meilen von der Stadt entfernt, inmitten der Wüste, gab es einen Ort, der das Tal der Fliegen genannt wurde. Im Spätfrühling waren die Fliegen hier so zahlreich, daß man tagsüber kaum atmen konnte, ohne welche zu verschlucken. Doch nachts waren sie verschwunden. Ohnehin gab es keinen Grund für die Unmengen von Fliegen an diesem Ort. Es gab hier nichts, wovon sie sich ernähren konnten, es sei denn, der Zufall wollte es, daß irgendwo in der Nähe ein kleines Tier starb. Doch hin und wieder kam es vor, daß eine ungewöhnlich große Zahl von Tieren hier dem Schicksal alles Sterblichen erlag.
Dann erstarrten an dieser Stelle sogar Vögel mitten im Flug und fielen tot zu Boden.
An diesem Ort wollte sich Ory mit mir treffen.
Ich kam früher als verabredet an, um zu sehen, ob sich irgendwo einige aus seiner Mördertruppe versteckten, um mir aus dem Hinterhalt aufzulauern. Doch die Gegend schien menschenleer. Der Mond stand nicht am Himmel, doch ich konnte auf sein Licht verzichten. Mein Blick wurde nicht wie sonst magisch vom Firmament angezogen, wenn dort unzählige Sterne funkelten. Suzamas Worte gingen mir immer wieder durch den Kopf. Sie hatte sich geradezu abrupt von mir verabschiedet. »Worte sind heute nacht nutzlos.«
Plötzlich war Ory da. Er saß auf einem Kamel.
Merkwürdig, daß ich ihn nicht kommen gehört hatte.
Er stieg von dem Tier ab und ging langsam auf mich zu. Auch ich war auf einem Kamel hergeritten, doch ich hatte es zurückgeschickt. Nachts zwanzig Meilen durch die Wüste zu gehen erforderte für mich keine besondere Anstrengung. Auf dem Heimweg, so hoffte ich, würde ich Orys Kopf als Trophäe tragen. Wie ich trug auch er ein langes Schwert in seinem Gürtel und zudem ein scharfes Messer. Ich lauschte aufmerksam, doch noch immer hörte ich nichts, was mich auf die Anwesenheit Dritter hätte schließen lassen. Welch ein Narr war er, mir unter solchen Umständen gegenüberzutreten! Er lächelte, als er auf mich zukam, und sein großer kahler Kopf schimmerte im schwachen Licht der Sterne. Er roch, als ob er seinen Kopf eingeölt hatte; es war der abstoßende Geruch einer übelriechenden Salbe.
»Sita«, sagte er. »Es ist eine seltene Ehre, daß mir ein Treffen mit einer so wichtigen spirituellen Führerin gewährt wird.«
»Weißt du, woher unsere spirituelle Macht kommt?«
»Von einem unglücklichen Ort. Einem Ort, an dem es weder Liebe noch Mitleid gibt. Ich kenne den Namen dieses Ortes nicht, aber ich weiß, daß ich niemals dorthin gehen möchte.«
Er stand wenige Schritte vor mir, doch seine Hände berührten das Schwert nicht. Er wies zum Himmel. »Diese Welt ist nicht die einzige. Es gibt viele Königreiche zu beherrschen, und wenn du mich begleitest, kann ich dir eine sichere Reise zu diesen anderen Orten gewähren. Ich habe dich während der letzten zwei Jahre genau beobachtet, Sita, und ich weiß, daß du eine von uns bist. Du hast Macht, und du nimmst dir das, was du willst. Du tötest wie selbstverständlich, um deinen Hunger zu stillen und deine Lust am Leben zu befriedigen. Du lebst ohne die Bürde eines Gewissens. Doch gleichzeitig versteckst du dich hinter dem Schürzenzipfel dieser Sklavin, die anderen ihr Schicksal voraussagt. Das ist es, was ich nicht verstehe.«
»Ich verstecke mich hinter nichts und niemandem. Suzama ist mehr als eine Weissagerin. Sie sieht in die Herzen der Menschen. Sie bringt Frieden an den Ort der Schmerzen und Heilung zu den Kranken. Die Setiane hingegen tun nichts dergleichen. Sie wollen Macht um der Macht willen. Nichts ist für mich langweiliger – und gleichzeitig bedrohlicher. Du hältst uns beide für verwandt, weil ich stark bin. Aber das ist das einzige, was wir gemeinsam haben, und noch bevor diese Nacht vorüber ist, wird nicht einmal mehr das stimmen. Denn du wirst im Sand begraben sein, und ich werde in der Stadt triumphierend lachen, derweil ich sie von den Letzten deiner Art befreie.«
Er wirkte amüsiert. »Erlaubt deine heilige Suzama solche Mordabsichten?«
»Ich werde ihr erst darüber berichten, nachdem es vollbracht ist.«
»Und du glaubst wirklich, daß du alle Setiane so einfach zerstören kannst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »In der Vergangenheit war ich ziemlich erfolgreich.«
Er
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