Das Orakel der Seherin
kam noch näher, und das Lächeln verschwand. »Du bist eine Närrin. Ich habe bisher nur Lehrlinge geschickt, die deine Stärke und Macht prüfen sollten.
Seitdem du in der Stadt bist, hast du kaum eine Handvoll von uns kennengelernt. Und als du ihnen gegenüberstandest, hast du sie nicht einmal erkannt. Wir kommen selten aus den Tiefen der großen Pyramide ans Tageslicht. Nur ich, Ory, der Führer, kümmert sich regelmäßig um die weltlichen Dinge. Doch ich werde diese Welt mit keinem anderen teilen, weder mit dir noch mit Suzama. Du hast die Wahl. Entweder du schließt dich uns jetzt an und schwörst mir einen heiligen Eid, oder du wirst diesen Ort nicht mehr lebend verlassen.«
Ich lachte. »Nach diesen Neuigkeiten, die du für mich hattest, habe ich ein paar Neuigkeiten für dich: Du weißt nicht, was ich bin.« Damit zog ich mein Schwert. »Das Blut, das durch meinen Körper fließt, ist nicht menschlich, doch ich habe die Kraft vieler Menschen. Zieh dein Schwert und kämpf gegen mich, Ory! Stirb wie ein Soldat und nicht wie ein Feigling oder lügnerischer Priester, der harmlose Anhänger verhext.«
Aber er zog nicht sein Schwert. Statt dessen streckte er die Arme zum Himmel empor.
Ein merkwürdiges rotes Licht glomm in seinen Augen.
Und als er sprach, klang seine Stimme wie Donnergrollen.
»Siehe die Nacht des Set, den Willen derjenigen, die vor den Menschen da waren. Dieser lebt in den Sternen, die im Licht des Blutes scheinen. Sieh auf und schaue die Macht, von der du glaubst, daß du sie bekämpfen kannst!«
Seine Stimme hatte eine solche Macht, daß ich tatsächlich einen Moment lang aufblickte. Zu meinem größten Erstaunen hatte sich der Nachthimmel verändert.
Über uns standen die Sterne in neuen Konstellationen, welche die alten abgelöst hatten. Sie schienen in einem leuchtend roten Licht, das wie das brennende Blut eines riesigen kosmischen Ungeheuers erschien, das alles um sich herum verschlang. Allein ihr Anblick erfüllte mich mit Übelkeit. Wie war es ihm gelungen, den Himmel zu verändern? Er mußte machtvoller sein, als ich geglaubt hatte.
Ich hob mein Schwert und trat näher auf ihn zu. Ich würde ihm den Kopf abschneiden.
Plötzlich wurde alles in ein grünes Licht getaucht.
Und mein Schwert, aus härtesten Metallen geschmiedet, zerschmolz und tropfte als Flüssigkeit in den Sand zu meinen Füßen.
Meine Hand brannte, das Fleisch war nahezu schwarz. Der Schmerz war so unerträglich, daß er mich in die Knie zwang. Ory stand hochaufgerichtet über mir, und hinter seinem großen Kopf schienen die roten Sterne noch heller zu leuchten. Sie schienen sich förmlich zusammengerottet zu haben und auf uns zu zu bewegen. Durch den Schmerz, der meinen Kopf wie Nebel verhüllte, sah ich, wie sie sich zu einem Kreis formierten und sich immer schneller zu drehen begannen. Die Luft um sie herum schien zu brennen. Ory beugte sich über mich.
»Wir Setiane beherrschen die Elemente«, sagte er. »Das gerade war Feuer –
nur für den Fall, daß du es nicht erkannt haben solltest. Jetzt werde ich dir das Element Erde demonstrieren.«
Er stellte seinen Fuß auf meine Brust und trat schmerzhaft zu. Erst jetzt, viel zu spät, erkannte ich, daß er um ein vielfaches stärker war als ich. Ich fiel hart auf meinen Rücken, die Arme zu beiden Seiten ausgebreitet, als ob ich gekreuzigt werden sollte. Ohne Zweifel hatte er mich genau in diese Lage bringen wollen. Bevor ich die Arme wieder heben konnte, um mich zu verteidigen, begannen die roten Sterne über seinem Kopf wieder zu pulsieren, und ich hörte den Sand zu beiden Seiten knistern. Einen Moment lang schien er fast lebendig zu sein, flüssiger Schmutz, mit einem Adergeflecht durchzogen, und dann sah ich entsetzt, wie sich aus der Erde etwas wie riesige Fäuste bildeten, nach meinen Unterarmen griffen und meine Hände bedeckten. Dann verwandelte sich der Sand in etwas, das hart war wie Beton, und ich konnte mich nicht mehr bewegen. All dies schien in wenigen Augenblicken vor sich zu gehen. Jetzt zog Ory sein Messer, kniete sich neben mir nieder und hielt die Spitze vor meine Augen.
»Soeben hast du eine Demonstration wahrer Macht gesehen«, sagte er.
Ich spie ihm ins Gesicht. »Und ich bin keineswegs beeindruckt.«
Er wischte die Spucke fort und fuhr mit der Messerspitze spielerisch über mein Augenlid. »Du bist wunderschön, Sita. Es hätte mir gefallen, wenn du eines Tages mir gehört hättest. Aber jetzt sehe ich, daß es mir nie gelungen
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