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Das Orakel vom Berge

Das Orakel vom Berge

Titel: Das Orakel vom Berge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillip K. Dick
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Dreieck nach allen Seiten; er betrachtete es von jedem außenliegenden Standpunkt.
    Was sehe ich? fragte er sich. Welcher Hinweis auf die Wahrheit spricht mich aus diesem Gegenstand an?
    Gib nach, sagte er zu dem silbernen Dreieck. Gib dein verstecktes Geheimnis preis.
    Wie ein Frosch, den man aus der Tiefe geholt hat, dachte er. Ein Frosch, den man in der Faust hält, dem man befiehlt zu offenbaren, was in den Tiefen des Wassers liegt. Aber hier verspottet einen der Frosch nicht einmal. Er erstickt stumm, wird zu Stein oder zu Ton. Träge, reglos. Wird zu einer starren Substanz.
    Metall stammt aus der Erde, dachte er, ohne den Blick von dem Silberstück zu wenden, aus der Tiefe: aus jenem Bereich, der der niedrigste ist, der dichteste. Dem Land der Trolle und der Höhlen, dumpf und stets dunkel. Eine Yin-Welt voller Melancholie. Eine Welt der Leichen, des Verfalls und des Zusammenbruchs. All das, was gestorben ist, sich auflöst und Schicht um Schicht in die Tiefe sinkt. Die dämonische Welt des Unveränderlichen. Die Zeit, die war.
    Und doch glänzte das silberne Dreieck in der Sonne. Es reflektierte das Licht. Feuer, dachte Mr. Tagomi. Kein dumpfer oder finsterer Gegenstand. Nicht schwer, müde, sondern voll pulsenden Lebens. Der höchste Bereich, ein Aspekt des Yang: ätherisch, mit Feuer erfüllt. Wie es sich für ein Kunstwerk geziemt. Ja, das ist die Aufgabe des Künstlers: ein Mineral aus der dunklen, stummen Erde zu holen und es in eine schimmernde, das Licht reflektierende Form des Himmels zu verwandeln.
    Er hat das Tote zum Leben erweckt. Aus einer Leiche etwas feurig Scheinendes gemacht; die Vergangenheit hat sich der Zukunft ergeben.
    Was bist du? fragte er das silberne Ding. Dunkles totes Yin oder strahlendes lebendes Yang? In seiner Hand tanzte das silberne Etwas, blendete ihn; er kniff die Augen zusammen und sah jetzt nur noch das Spiel des Feuers.
    Körper des Yin, Seele des Yang. Metall und Feuer vereint. Das Äußere und das Innere. Der Mikrokosmos in meiner Hand.
    Was ist der Raum, von dem das hier spricht? Senkrechter Aufstieg. In den Himmel? Zeit? In die Lichtwelt des Veränderlichen. Ja, dieses Ding hat seinen Geist von sich gegeben: Licht. Und meine Aufmerksamkeit ist gebannt; ich kann nicht wegsehen. Fasziniert von einer geradezu hypnotisch schimmernden Fläche, die sich meiner Kontrolle entzogen hat. Ich kann mich nicht mehr von ihr lösen.
    Jetzt sprich zu mir, sagte er. Jetzt, da du mich in deinen Bann gezogen hast. Ich will deine Stimme hören, wie sie aus dem blendend klaren weißen Licht drängt, einem Licht, wie wir es nur in jenem fernen Leben nach dem Tode im Bardo Thödol zu sehen erwarten. Aber ich brauche nicht auf den Tod zu warten, auf die Auflösung meines Geistes, der die Wanderschaft auf der Suche nach einem neuen Leid angetreten hat. All die schrecklichen und all die wohlgesinnten Gottheiten; wir werden an ihnen vorbeiziehen, an ihnen und auch den rauchigen Lichtern. Und die Paare im Koitus. Alles außer diesem Licht.
    Ich bin bereit, all dem ohne Schrecken ins Antlitz zu sehen. Merkst du, daß ich keine Angst habe?
    Ich spüre, wie die heißen Winde des Karma mich treiben. Dennoch bleibe ich hier. Meine Ausbildung war richtig: Ich darf nicht vor dem klaren weißen Licht zurückschrecken, denn wenn ich das tue, werde ich erneut in den Kreislauf der Geburt und des Todes eintreten, nie die Freizeit kennen, nie Erlösung finden. Der Schleier wird erneut über mich fallen, wenn ich…
    Das Licht verblaßte.
    Jetzt hielt er wieder nur ein stumpf glänzendes silbernes Dreieck in der Hand. Ein Schatten hatte die Sonne verdeckt; Mr. Tagomi blickte auf.
    Ein hochgewachsener, blau uniformierter Polizist. Er stand neben seiner Bank, lächelte.
    »Hm?« sagte Mr. Tagomi erschreckt.
    »Ich habe Ihnen zugesehen, wie Sie dieses Geduldsspiel spielten.« Der Polizist wollte weitergehen.
    »Geduldsspiel?« wiederholte Mr. Tagomi. »Das ist kein Geduldsspiel.«
    »Ist das nicht eines dieser kleinen Dinger, die man zerlegen muß? Mein Junge hat ‘ne ganze Menge davon. Manche sind recht schwierig.«
    Der Polizist schlenderte weiter.
    Zunichte gemacht, dachte Mr. Tagomi. Meine Chance, Nirwana zu erreichen. Dahin. Von diesem weißen barbarischen Neandertaler unterbrochen. Dieser Unmensch, der sich einbildet, ich würde hier ein Kinderspiel betreiben.
    Er erhob sich von der Bank und tat ein paar unsichere Schritte. Ich muß mich beruhigen. Für mich und meinesgleichen geziemen sich solche

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