Das Orakel von Antara
dass auch Menschen wir Phyrras oder die edle Finia nicht wert sind, von ihren Fesseln befreit zu werden?“ fragte Nith. „Auch sie haben die Gefangenschaft dem Tod vorgezogen, um dich zu retten.“
„Das ist etwas ganz anderes“, widersprach Yorn. „Sie hatten einen guten Grund für ihre Entscheidung.“
„Junger Mann, was weißt du von den Gründen der anderen?“ wies Nith ihn zurecht. „Nicht wenige werden aus Klugheit und nicht, weil sie feige waren, diesen Weg gewählt haben. In Moradon leben nun einige tausend antarische Sklaven. Glaubst du nicht, dass sie eines Tages eine entscheidende Rolle im Kampf um die Freiheit spielen könnten? Sind nicht lebende Stachel in den Herzen der Feinde wertvoller als tote Helden in den unseren? Du bist noch sehr jung und hast noch nicht viel von der Welt gesehen. Lerne erst einmal, dein ungestümes Temperament zu zügeln und deine Worte weise zu wägen. Erst wenn du das gelernt hast, kannst du dich mit voller Berechtigung Waskors Sohn nennen. Dein Vater war ein Mann von großem Mut und überragender Tapferkeit, aber er wusste auch, dass blinder Eifer und vorschnelles Urteil von Übel sind. Es wird geraume Zeit dauern, bis du an seine Größe heranreichst. Was wir dazu beitragen können, dich für deine hohe Aufgabe zu rüsten, werden wir gern tun. Vor dir liegt eine harte Zeit der Ausbildung.
Du wolltest wissen, was die Verheißung bei deiner Geburt ankündigte. Du wirst es erfa hren, jedoch erst, wenn ich sehe, dass du dieser Anforderung gewachsen bist. Daher wird dir zuerst genügen müssen, was du bis jetzt darüber weißt. Alles Weitere würde dich nur zu vorschnellem Handeln ermutigen, und du würdest den Gefahren auf deinem Weg sehr bald erliegen. Das jedoch kann ich in deinem und unser aller Interesse nicht zulassen.
Darum bedenke: Je mehr du dich bemühst, dich in den Dingen zu vervollkommnen, die wir dich lehren we rden, umso eher wirst du Näheres über deine Bestimmung erfahren. Der Rat der Alten und ich werden dich in die Sprachen unserer Nachbarn, die Dialekte unseres Volkes und in dessen Geschichte einführen, und wir werden versuchen, dir Weisheit und Wissen zu vermitteln. Kandon wird dich in der Kunst des Ringens und des Speerwurfs unterrichten und er wird über dein Leben wachen. Der beste Schwertkämpfer der Niveder, Sarn, der euch gefangen nahm, wird dich den Umgang mit dieser Waffe lehren, Belion, der Jäger, den Gebrauch des Bogens und der Wurfleine. Lyr, der Meister der Streitaxt, bringt dir bei, wie man mit dieser Waffe umgeht.
Du siehst, vor den Ruhm haben die Götter den Schweiß gesetzt! Und glaube nicht, dass du dein Ziel in wenigen Monaten erreichen wirst. Waskor wurde nicht der Hochkönig der Antaren, weil sein Vater es auch war. Wäre er nicht der beste Krieger unseres Volkes gewesen und ein Vorbild für jeden unserer Männer, hätte ein anderer dieses Amt angetreten. Auch du wurdest nicht als Hochkönig geboren, nur als Fürstensohn, und du musst den Anspruch auf dieses Amt erst durch deine Person erringen, was du wahrscheinlich nicht wusstest.
So, und nun werden wir erst einmal zum Essen gehen, denn die Sonne steht schon hoch, und ihr werdet sicherlich Hunger haben. Folgt mir! Wä hrend das Mal bereitet wird, weise ich euch eure Unterkunft zu.“
Da fragt Reven zaghaft: „Und ich, weiser Nith? Was habt ihr über mich beschlossen? Nehmt ihr auch mich in den Stamm auf, oder werdet ihr mich von meinem Bruder trennen?“
Nith lächelte. „Sei unbesorgt, Reven! Auch du bist in unserem Kreis willkommen, denn du scheinst ein tapferes Herz und eine aufrechte Gesinnung zu haben. Und wenn du es wünschst, kannst du an Yorns Ausbildung teilhaben, da er ja sowieso von dir nicht zu trennen sein wird. Und da du ihn wohl auch bei der Erfüllung seiner Aufgabe begleiten wirst, ist es nur gut, wenn auch du für alles vorbereitet bist. Auch Waskor und Phyrras waren Schwertbrüder, wie ihr beide es wohl auch sein werdet, und du siehst, dass diese Freundschaft und Treue vielleicht die Zukunft unseres Volkes rettete. So, wie Yorn sich bemühen muss, dem Vorbild seines Vaters nachzueifern, sollte dir das Bild von Phyrras stets vor Augen stehen. Nun aber kommt! Schon zu viel Zeit ist nutzlos verstrichen, und wir haben zwanzig Jahre aufzuholen. Je eher Yorn für seine Aufgabe gerüstet ist, desto eher enden vielleicht die Leiden unseres Volkes.“
Viertes Kapitel
Fünf Jahre vergingen, doch die Zeit schien in
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