Das Orakel von Antara
die Tage kommen, auf die unser Volk so lange schon wartet. Doch zunächst habe Geduld. Nith wird sicher bald kommen.“
Und wirklich betrat Nith in diesem Augenblick mit einigen alten Männern das Versammlungshaus. Yorn erhob sich, zwar noch etwas benommen und mit schmerzendem Hals, aber voller Erwartung. Nith trat auf ihn zu und betrachtete ihn stumm und eingehend. Yorn hatte das Gefühl, als dringe der Blick der eisblauen Augen bis auf den Grund seiner Seele. Mit leisem Unbehagen, aber unbewegt hielt er den forschenden Augen des Priesters stand.
Da brach Nith das Schweigen. „Zeig' mir noch einmal das Zeichen!“ bat er.
Bereitwillig zog Yorn das zerrissene Hemd zur Seite und entblößte die Narben. Noch einmal studierte Nith eingehend das eingeschnittene Zeichen: die drei gebündelten Blitze Saadhs. Dann wies er auf die Sitzkissen und sagte:
„Setz' dich nieder und erzähle mir alles, was du von deiner Herkunft weißt!“
Und so saßen Yorn und Reven im Kreis der Alten, und Yorn berichtete, was er durch Loran über Phyrras und dessen Flucht vor den Moradonen erfahren hatte. Er erwähnte auch, dass der Pflegevater Reven ebenso mit dem Königsmal gezeichnet hatte, um die Bedeutung der Narben zu verschleiern.
„Vor einigen Wochen nun hat der Vater uns meine Herkunft enthüllt“, schloss Yorn seinen Bericht. „Ich fühlte, dass ich nur hier dem Geheimnis meiner Geburt näherkommen würde, und darum brach ich sofort auf. Reven begleitete mich, da wir uns geschworen haben, uns nie ohne Not zu trennen. Er ist mein Bruder, obwohl nicht von gleichem Blut - ja, mehr noch: er ist mein Freund! Jeder von uns ist bereit, für den anderen sein Leben zu geben.
Darum bitte ich euch nochmals: Nehmt uns beide in den Kreis der Niveder auf! Was wir tun können, um das Schicksal unseres Volkes zu wenden, soll geschehen. Aber auch wenn ihr unseren Wunsch nicht erfüllen wollte, so sagt mir wenig stens, was ihr von der Verheißung und ihrer Bedeutung für mich wisst. Und erzählt mir von meinem Vater und meiner Mutter! Ihr werdet verstehen, dass ich begierig bin zu erfahren, wie sie waren.“
„Die Königsnarben, die Karte und deine Geschichte haben erwiesen, dass du wirklich Waskors Sohn bist“, antwortete Nith. „Darum sind wir mit Freuden bereit, dich als einen der Unseren anzuerkennen. Lange Jahre haben wir gehofft und zu Saadh gefleht, du mögest gerettet worden sein und eines Tages zu uns zurückkehren.
Doch je mehr Zeit verging, desto schwächer wurde die Hoffnung, dass Phyrras die Flucht überlebt und dich in Sicherheit gebracht haben könnte. Wir wussten von dieser Flucht, denn einem unserer Brüder war es gelungen, der Sklaverei zu entrinnen. Er kam zurück und berichtete von Phyrras' Unternehmung. Der Schwertbruder deines Vaters war ein Held und ein umsichtiger Mann. Darum war durchaus die Möglichkeit gegeben, dass er mit dir einen sicheren Ort erreicht hatte.
Aber als Jahre verrannen, ohne dass Phyrras zurückkehrte oder eine Botschaft sandte, sank unser Mut, und viele der anderen Stämme glaubten nicht mehr an die Erfüllung der Verheißung. Immer mehr Menschen unseres Volkes wurden von den Moradonen versklavt, denn mit der Hoffnung hatten viele Widerstandskraft und Kampfgeist verloren. Nur wenige Stämme gingen wie wir in die unwegsame Wildnis, wo Hunger und Armut das Leben bestimmen und wo die Natur mit vielen Gefahren öfter unser Gegner als unser Freund ist. Nur wenig können wir hier dem Boden an Nahrung abringen, und es bedarf vieler guter Jäger, um für uns alle zu sorgen. Oft ziehen unsere Männer tagelang durch die Berge und legen weite Strecken zurück, denn wir dürfen nicht alles Wild vernichten, wenn wir hier überleben wollen.
Wir leben zwar in Freiheit, aber unser Leben ist hart und voller Entbehrungen. So zogen viele Antaren die Fron der Moradonen vor, denn wenn sich ihre Sklaven in ihr Schicksal g efügt haben, füttern sie jene ausreichend und töten oder verstümmeln sie nur selten. Da die Jagd auf die Antaren gefährlich ist und immer kärgere Erfolge bringt, sind die Moradonen nicht daran interessiert, die mit vielen eigenen Toten erkauften Sklaven durch eigenes Verschulden wieder zu verlieren.“
„Gibt es wirklich Antaren, die ein Leben in Sklaverei dem ehrenvollen Tod im Kampf vorziehen?“ fuhr Yorn auf. „Dann sind sie nicht wert, dass man sein Blut für ihre Freiheit gibt und haben ihr Schicksal verdient!“
„So bist du der Meinung,
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