Das Orakel von Antara
er entsetzt fest, dass nur noch die dunklen Sterne ihrer Augen klar aus den nebelhaft verschwommenen Zügen ihres Antlitzes blickten.
„Oh, Saadh, hilf!“ schrie er verzweifelt. „Hilf ihr, so wie sie deinen Getreuen geholfen hat! Überlass sie nicht den Händen der rachsüchtigen Göttin, die sie betrog, um dir zu dienen. Ich flehe dich an, Herr, rette Vanea!“
„Da, seht doch!“ rief Reven plötzlich voll Schrecken. Vor ihnen erhob sich mit einem Mal eine drohend schwarze Wolke. Blitzgekrönt trieb sie den Flüchtenden geradewegs entgegen. Krachend rollten gewaltige Donnerschläge über die Ebene, in denen das scharfe Zischen der Schlittenkufen und das japsende Hecheln der dahinhetzenden Wölfe untergingen.
„Ihr Götter, was ist das?“ versuchte Kandon das Getöse zu überschreien. „Nie sah ich eine solche Wolke!“
Doch Yorn frohlockte. In einer der kurzen Donnerpausen rief er den Gefährten zu: „Fürchtet euch nicht! Das ist Saadh, der uns zu Hilfe eilt. Der Gott hat mein Flehen erhört. Er wird uns vor der Rache Namindas schützen.“
Da brauste die Wolke auch schon über sie hinweg. Und dann brach in ihrem Rücken ein Inferno los. Yorn wandte sich kurz um, schloss aber geblendet die Augen, denn die dicht auf dicht flammenden Blitze versengten ihm fast die Netzhaut. So gewaltig krachten die Donner, dass die Wellen ihres Schalls die Männer bis ins Mark erbeben ließen. Mit rasender Geschwindigkeit stob die schwarze Wolke dahin, als triebe sie etwas den Grenzen des Nebelreichs entgegen. Schon bald hörten die Gefährten den Donner nur noch aus der Ferne, und dann war es auf einmal wieder still. Die drei Männer hatten die Schlitten angehalten, nachdem die Wolke über sie hinweggezogen war.
Hechelnd saßen die Wölfe im Schnee. Kandon ging zu ihnen, um sie für ihre gewaltige Leistung zu loben und zu liebkosen. Ruhig duldeten die Tiere die Berü hrung seiner Hand, und auch die Nähe Wynns, der Kandon gefolgt war, schien sie nicht zu beunruhigen. Als die Schlitten zum Stillstand gekommen waren, hatte Yorn als erstes nach Vanea gesehen. Zu seiner großen Freude sah er, dass der unheilvolle Einfluss Namindas sich verzogen zu haben schien.
Bleich, aber mit einem kleinen Lächeln schaute Vanea aus den weichen Pelzen hervor. Nichts erinnerte mehr daran, dass ihr Körper sich fast in Nebel aufgelöst hätte.
„Saadh sei Dank!“ seufzte Yorn. „Er kam als Retter in letzter Minute. Es ist gut zu wissen, dass sein mächtiger Arm über uns wacht. Saadh ist gerecht. Er schützt diejenigen, die ihm dienen.“
„Auch ich danke eurem Gott für meine Errettung“, sagte Vanea. „Ich spürte, dass Naminda mich an sich zog, und fast wäre es zu spät gewesen. Sie verriet mir, welche Strafe sie für mich vorgesehen hatte. Abgeschlossen von allen sollte ich in den tiefen Gewölben ihres Tempels auf lange Zeit ihren Dienst versehen. Nie mehr hätte ich das Sonnenlicht über dem See oder die sanften Nebel über unserem Reich gesehen. Einmal in zehn Jahren sollte es mir vergönnt sein, eine Träne zu vergießen, welche die Göttin dann in den Wasserfall eingefügt hätte, bis das gestohlene Stück ersetzt gewesen wäre.“ Vanea schauderte zusammen. „Kannst du ermessen, wie lange es gedauert hätte, bis sie mich aus ihrer Fron entlassen hätte?“
„Welch grausame Vergeltung!“ rief Yorn aus. „Und das wegen eines Stückchen gefrorenen Wassers! Hat Naminda nicht die Macht, es mit einem Wink ihrer Hand zu ersetzen, wenn sie ein ganzes Land zu Eis erstarren lassen konnte?“
„Wohl hat sie die Macht“, antwortete das Mädchen. „Aber sie wollte Rache für meinen Ungehorsam. Schließlich war ich ihre Hohepriesterin. Wer hätte sie noch gefürchtet, wenn sie mich nicht strafte?“
„Welch großer Unterschied zwischen den Göttern ist!“ sagte Yorn nachdenklich. „Saadh hat niemals gewünscht, dass man ihn fürchtet. Er ist streng, aber gerecht. Nie würde er eine solche Kleinigkeit so schwer bestrafen, zumal du nicht aus niederen Beweggründen ein Stück des heiligen Wasserfalls stahlst. Du wolltest nur helfen, ein ganzes Volk aus der Knechtschaft zu befreien. Hat denn Naminda kein Herz?“
„Man sagt, Namindas Herz erstarrte wie das Land zu Eis, als ihr der Geliebte genommen wurde“, antwortete Vanea leise. „Daher kennt sie kein Mitleid mehr. Für sie zählt nichts mehr außer der ewigen Trauer um den verlorenen Liebsten. Nur ihm gelten ihre
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