Das Orakel von Port-nicolas
ihm erklären.«
»Verstanden. Was macht er hier?«
»Die Zeitungen lesen, auswählen, was schief ist, ausschneiden, ordnen. Und er schreibt einen kurzen Bericht für mich.«
»Vertraust du ihm? Er könnte doch überall herumwühlen.«
Louis holte zwei Bier und hielt Marthe eines hin.
»Das Wesentliche ist unter Verschluß. Und ich habe mir den Typen gut ausgesucht, glaube ich. Es ist ein Kerl von Vandoosler. Erinnerst du dich an Vandoosler, den Kommissar vom 13. Arrondissement? Hat er dich schon mal aufgelesen?«
»Mehrfach. Er war lange bei der Sitte. Sympathischer Kerl. Ich bin ziemlich oft bei ihm vorbei, wir haben uns gut verstanden. Er hat den Mädchen nicht ständig Schwierigkeiten gemacht, das muß man anerkennen.«
»Man muß ihm noch vieles andere anerkennen.«
»Sag, ist er nicht rausgeschmissen worden? Das würde doch passen.«
»Ja. Er hat einen Mörder laufen lassen.«
»Vermutlich hat er seine Gründe dafür gehabt?«
»Ja.«
Louis ging mit seinem Bier im Zimmer umher.
»Warum reden wir davon?« fragte Marthe.
»Wegen Vandoosler. Er hat mir einen Typen geschickt, um die Unterlagen zu ordnen. Es ist sein Neffe oder sein Patensohn. Er hätte mir nicht irgend jemanden geschickt, verstehst du.«
»Wie findest du ihn?«
»Ich weiß nicht, ich hab ihn dreimal in drei Wochen gesehen. Er ist ein arbeitsloser Historiker, Fachgebiet Mittelalter. Er wirkt wie ein Mensch, der sich unaufhörlich Fragen stellt, die in alle Richtungen gleichzeitig gehen. Was das Thema Zweifel angeht, scheint er reichlich bedient, ich glaube, er neigt nicht zur Selbstüberschätzung.«
»Er müßte dir also passen? Wie sieht er aus?«
»Ziemlich eigenartig, sehr schmal, ganz schwarz gekleidet. Vandoosler hat drei Typen in seiner Umgebung, er hat mir den da geschickt. Lern ihn kennen und schau, wie du zurechtkommst. Ich geh jetzt, Marthe, ich bin an einer Sache dran, die mich beschäftigt.«
»Bank 102?«
»Ja, aber nicht, was du glaubst. Den Neffen des Abgeordneten überlasse ich Vincent, er ist jetzt groß. Es ist was anderes, ein Stückchen von einem menschlichen Knochen, das ich neben der Bank gefunden habe.«
»Woran denkst du?«
»An einen Mord.«
Auch wenn Marthe den Zusammenhang nicht recht sah, vertraute sie Louis doch. Gleichzeitig machte sie sich Sorgen wegen seiner unaufhörlichen Aktivität. Seitdem er aus dem Ministerium rausgeworfen worden war, hatte Ludwig nicht mehr aufgehört damit. Manchmal fragte sie sich, ob er nicht einfach irgendwas irgendwo suchte, von Bank zu Bank, von Stadt zu Stadt. Er hätte doch aufhören können. Aber offensichtlich stand das nicht auf der Tagesordnung. Früher hatte er nie einen Fehler begangen, aber da war er auch noch in die Kreisläufe integriert und immer in offiziellem Auftrag. Seitdem er das auf eigene Faust machte, ohne den geringsten Auftrag, machte sie sich Sorgen, sie hatte Angst, daß er verrückt würde. Sie hatte ihn schon mal danach gefragt, aber Ludwig hatte barsch geantwortet, er sei nicht verrückt, es komme nur schlichtweg nicht in Frage, den Zug jetzt anzuhalten. Und dann hatte er sein Deutschengesicht aufgesetzt, wie sie das nannte, also genug, Erbarmen.
Sie beobachtete Louis, der an ein Regal gelehnt dastand. Er wirkte ruhig, wie immer, so wie sie ihn immer erlebt hatte. Sie kannte sich aus mit Männern, das war ihr Stolz, und der da war einer ihrer Lieblinge, abgesehen von den vieren, die sie geliebt hatte, die aber weder so sanft noch so unterhaltsam gewesen waren wie Ludwig. Es wäre ihr nicht recht, wenn er verrückt würde, er war einer ihrer Lieblinge.
»Hast du einen Grund, an Mord zu denken, oder denkst du dir eine gute Geschichte aus?«
Louis verzog das Gesicht.
»Ein Mord ist keine gute Geschichte, Marthe, ich mach das nicht, um mich zu beschäftigen. Im Fall der 102 vermute ich, daß ich mich täusche, daß am Ende von diesem Knochen nichts ist – ich hoffe es. Aber es läßt mir keine Ruhe, ich habe keine Gewißheit, also überwache ich. Ich gehe da noch mal vorbei. Schlaf gut.«
»Solltest du nicht auch lieber schlafen? Was wirst du da sehen?«
»Pissende Hunde.«
Marthe seufzte. Nichts zu machen, Ludwig war ein Besessener, ein Zug ohne Bremsen. Langsam, aber ohne Bremsen.
7
Als sein Pate ihm diesen kleinen Job für zweitausend Francs angeboten hatte, hatte Marc Vandoosler die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Zusammen mit der Halbtagsstelle in der Stadtbibliothek ab nächstem Januar würde es dann ein bißchen besser
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