Das Orakel von Port-nicolas
ebenfalls überprüft. Keine vergessene Leiche, kein übersehener Toter, keine Vermißtenmeldung, niemand, der abgehauen wäre. Es ist jetzt zehn Tage her, daß der Hund uns das auf dem Baumgitter abgelegt hat. Also …«
Louis machte eine Pause, tastete die noch lauwarme Kaffeekanne ab und schenkte sich eine Tasse ein.
»Also hat der Hund das von woanders, von weiter her mitgebracht. Das ist sicher. Irgendwo gibt es eine Leiche, die ans Ende unseres Knochens gehört, und ich will wissen wo, in welchem Zustand auch immer.«
Ja, vielleicht, dachte Marc, aber mit der ganzen Provinz am Hals und, warum nicht, dem ganzen Planeten, wo man schon mal dabei war, hatten die Rechnungsbücher des Seigneurs von Puisaye keine große Chance, voranzukommen. Kehlweiler würde sich bis zum Ende in die Sache verbeißen, Marc verstand jetzt besser, warum er sich diese Art Aufgaben aufhalste, er aber mußte da raus.
»Marc«, fuhr Kehlweiler fort, »unter unseren 23 Hunden muß mindestens einer sein, der mobil ist und Paris verlassen hat. Schau deine Zettel an. Wer war unter der Woche weg, am Donnerstag oder Mittwoch? Ist ein Mann oder eine Frau vermerkt worden, der oder die verreist war?«
Marc kramte in seinen Aufzeichnungen. Friedliche Leute, alles nur friedliche Leute. Er hatte Kehlweilers Notizen, seine eigenen und die von Mathias. Er hatte das alles noch nicht geordnet.
»Schau langsam, nimm dir Zeit.«
»Willst du’s nicht selber durchsehen?«
»Ich bin müde. Ich bin im Morgengrauen aufgestanden, um zehn, um Lanquetot zu sehen. Ich bin zu nichts zu gebrauchen, wenn ich müde bin.«
»Trink deinen Kaffee«, sagte Marthe.
»Es gibt hier einen«, bemerkte Marc. »Einen Typen, um den sich der Jäger und Sammler gekümmert hat.«
»Der Jäger und Sammler?«
»Mathias«, präzisierte Marc. »Du hast es mir erlaubt.«
»Verstanden«, sagte Louis. »Was hat dein Sammler gejagt?«
»Normalerweise den Auerochs, in diesem Fall aber einen Mann.«
Marc überflog noch einmal den Zettel.
»Ein Mann, der einmal pro Woche, freitags, an der Technischen Hochschule unterrichtet. Er kommt Donnerstagabend in Paris an und fährt Samstagmorgen im Morgengrauen wieder zurück. Wenn Mathias vom Morgengrauen spricht, ist es wirklich Morgengrauen.«
»Wohin fährt er wieder zurück?« fragte Kehlweiler.
»Ans äußerste Ende der Bretagne, nach Port-Nicolas, in der Nähe von Quimper. Dort wohnt er.«
Kehlweiler verzog leicht das Gesicht, streckte die Hand aus und nahm sich den Zettel, den Mathias geschrieben hatte. Er las ihn äußerst konzentriert mehrfach hintereinander.
»Jetzt hat er wieder sein Deutschengesicht«, flüsterte Marthe Marc ins Ohr. »Das wird was geben.«
»Marthe«, sagte Louis, ohne den Blick zu heben, »du wirst nie anständig flüstern.«
Er stand auf und zog einen schweren hölzernen Karteikasten aus den Regalen, der das Etikett O-P trug.
»Hast du eine Karteikarte über Port-Nicolas?« fragte Marc.
»Ja. Sag mal, Marc, wie hat dein Jäger und Sammler es angestellt, das alles herauszufinden? Ist er Spezialist?«
Marc zuckte mit den Schultern.
»Mathias ist ein besonderer Fall. Er sagt praktisch nichts. Und dann sagt er ›Rede!‹, und die Leute reden. Ich habe gesehen, wie er das gemacht hat, das ist kein Witz. Und er verwendet keinen Trick, ich habe mich informiert.«
»Was denkst denn du«, sagte Marthe.
»Auf jeden Fall funktioniert es. Leider nicht in der andern Richtung. Wenn er ›Halt die Klappe‹ zu Lucien sagt, funktioniert es nicht. Ich vermute, daß er mit dem Typen geredet hat, während der Hund seinen Hundebeschäftigungen nachging.«
»Keine weiteren Reisenden?«
»Doch. Noch ein Mann, der zwei Tage in der Woche in Rouen verbringt, anscheinend zwei Familien.«
»Also?«
»Also, wenn man sich die vergangenen vierzehn Tage in Ouest-France und im Courrier de l’Eure ansieht«, sagte Marc, »was sieht man dann?«
Louis lächelte und schenkte sich Kaffee nach. Er brauchte Marc jetzt nur noch reden zu lassen.
»Nun, was sieht man dann?« wiederholte Marc.
Er nahm sich wieder seine Ordner vor und überflog rasch die Nachrichten aus dem Departement Finistère Sud und der Haute-Normandie.
»Im Departement Eure ein LKW-Fahrer, der nachts gegen eine Mauer gerast ist, Mittwoch, vor elf Tagen, viel Alkohol im Blut, und im Finistère eine alte Dame, die am Donnerstag oder Freitag morgen auf einem steinigen Strandstreifen verunglückt ist. Keine Geschichte mit Zehen, wie du dir denken
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