Das Orakel von Port-nicolas
hätten, würden Sie nicht allein in der Nacht Spazierengehen. Und wenn man jemanden schreien hört, der irgendwo hinunterstürzt, dann geht man nachsehen und helfen, oder? Jedenfalls kein Grund, sich zu verstecken. Außer wenn man selbst gestoßen hat.«
»Ich habe ihn nicht hinuntergestoßen«, wiederholte Lina.
»Dann haben Sie gesehen, wie jemand ihn hinuntergestoßen hat.«
»Nein.«
»Lina« fuhr Louis noch sanfter fort. »Guerrec wird bald hier sein. Er ist Bulle. Dreizehn Tage nach Maries Tod stürzt ein Typ von einem Felsen. Man findet Sie, wie Sie sich vor Ort unter den Bäumen verstecken. Wenn Ihnen nichts Besseres zu sagen einfällt, wird Guerrec seine Arbeit als Bulle tun.«
Marc sah die Gruppe an. Lina zitterte noch immer, und Louis hatte nicht mehr sein merowingisches Gotengesicht.
»Und Sie, was machen Sie für eine Arbeit?« fragte Lina. »Ich weiß, wer Sie sind, die Frau des Bürgermeisters hat es mir gesagt. Ich sehe keinen Unterschied zu Guerrec.«
»Ich schon. Es ist besser, Sie reden mit mir.«
»Nein.«
Louis gab Mathias ein Zeichen, und er führte Lina beiseite. Sie zitterte und schien zugleich mit nichts etwas zu schaffen zu haben, und das paßte nicht zusammen.
Eine Stunde später war der Platz verlassen. Die Gendarmen aus Fouesnant waren dagewesen, Guerrec war dagewesen. Er hatte Lina Sevran nach Hause gefahren. Gaèl war bewußtlos ins Krankenhaus von Quimper gebracht worden.
»Ich will ein Bier«, sagte Louis.
Die drei Männer hatten sich in Kehlweilers Zimmer versammelt. Marc weigerte sich, die Bierflaschen zu holen, weil Louis sie zu Bufo ins Bad geräumt hatte. Louis brachte drei Flaschen. Marc sah in den Flaschenhals.
»Lina Sevran schläft mit Gaèl«, sagte er leise, das Auge an die Flasche gedrückt. »Sie sind das Paar von der Vauban-Hütte. Marie überrascht sie, Lina bringt sie um. Warum?«
»Angst vor der Scheidung«, bemerkte Mathias.
»Ja, sie braucht die Kohle des Ingenieurs. Dann bringt sie den zerbrechlichen Liebhaber um, damit er die Klappe hält.«
»Komm aus der Flasche raus«, sagte Louis. »Wenn sie mit Gaèl schläft, warum wartet sie dann nicht, bis der Ingenieur in Paris ist? Warum sich um fünf Uhr in einer eiskalten Hütte quälen, wenn man um acht ein schönes Bett finden kann?«
»Dafür lassen sich Gründe finden. Sie war jedenfalls da, als Gaèl gestürzt ist. Und sie hat den Hund erschossen.«
»Daran denke ich«, sagte Louis.
»Was hat sie dir gesagt?«
»Ich habe nicht mehr vom Felsen geredet und auch nicht mehr vom Hund. Ich habe von ihrem ersten Mann geredet. Er ist durch einen Sturz vom Balkon gestorben, erinnerst du dich?«
»Ein Unfall, oder?«
»Ein Sturz wie der von Gaèl. Wenn es sich um einen Mord handelt, ist er einfach und perfekt.«
»Was sagt sie dazu?«
Louis zuckte mit den Schultern.
»Sie sagt, daß sie ihn nicht hinuntergestürzt hat, genausowenig wie Gaèl. Und sie zittert stärker als je zuvor. Ich habe den Eindruck, diese Geschichte ist entsetzlich für sie. Ich habe sie wegen Diego Lacasta bearbeitet, der damals innerhalb einer Woche vom schwungvollen Torero zum schweigenden Duckmäuser geworden ist. Sie bestätigt das und fügt sogar hinzu, daß Diego sie vermutlich die ganze Zeit in Verdacht hatte. Vor dem Unfall war er redselig und vertrauensvoll ihr gegenüber, und bei den Ermittlungen hat er sich zuerst sehr ins Zeug gelegt. Danach sichtliche Veränderung, flüchtige Blicke, Schweigen und Argwohn. Sie sagt, ohne das absolute Vertrauen von Marie, Sevran und den Kindern wäre sie nicht damit fertiggeworden.«
»Weiß sie, wo Diego ist?«
»Nein, aber sie ist sicher froh, ihn los zu sein. Er lastete auf ihr wie ein altes, schweigsames Phantom.«
Marc blies in seine Flasche.
»Und das alte Phantom ist auch verschwunden«, sagte er.
»Ja«, erwiderte Louis.
Louis ging in dem kleinen Zimmer umher und stellte sich vor das Fenster. Es war schon nach zwei Uhr morgens, Mathias schlief auf einem der beiden Betten ein.
»Man müßte wissen, wer dieses Paar ist«, sagte Louis schließlich.
»Glaubst du, daß es wirklich eins gibt?«
»Ja. Sobald wir es haben, werden wir sehen, ob es was Handfestes ist oder nur ein Köder. Und ob der Verfasser des Briefchens schlicht ein Denunziant ist oder ein Mörder, der ein rotes Tuch vor uns herumschwenkt. Es muß hier doch jemanden geben, der in der Lage ist, uns den Namen der Geliebten von Gaèl zu liefern.«
»Darnas?«
»Nein. Darnas rät nur, er weiß es nicht. Wir
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