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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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aber schon. Und als ich nach Hause ging, fragte ich meinen Vater, ob wir uns schnell einen VW kaufen könnten, weil ich heute im Kindergarten gesagt hätte, dass wir einen haben. Mein Vater ruft meine Mutter. »Karin?« – »Peter?« – »Karin, deine Tochter erzählt, dass wir einen VW haben.« Dann nahm er mich zu seinem Globus, der auf einem Regal stand, und zeigte mir unser Land. »Das sind wir, das ist die DDR, Deutsche Demokratische Republik. Hier gibt es keine VWs.« Sie war ganz klein. »Und was ist das?« – »Das ist die BRD, Bundesrepublik Deutschland. Da gibt es VWs und Demokratie, die ist aber keine, da wird man vom Kapital regiert.« Das habe ich überhaupt nicht verstanden, aber so getan, als hätte ich es verstanden, und genickt.
    »Sprechen die auch deutsch?«
    »Ja.«
    »Und warum heißen die dann anders?«
    »Weil es ein anderes Land ist.«
    »Warum?«
    »Das ist wie das Verhältnis zwischen dir und deiner Schwester. Nicht einfach.«
    Ich verstand.
    »Zwischen den zwei Ländern steht eine große Mauer.«
    »Warum?«
    »Damit die Bürger der BRD hier nicht reinkommen.«
    »Schade.«
    »Überhaupt nicht schade! Und jetzt räum eure Räuberhöhle auf.«
     
    |35| Vielleicht war es an dem Tag oder an einem Tag später oder eine Woche später, als ich mit meiner Mutter in den Konsum ging, der ein Stück die Straße runter war, an einem Platz mit großen Betonplatten, nicht weit von der Klärgrube entfernt. Da tuschelten zwei Frauen hinter dem einen Regal, das es in dem Laden gab, und fragten meine Mutter, als sie wie zufällig um die Ecke bogen, ob alles so weit gut laufe. Ja, schön, da könne man sich ja auch ein Auto leisten bei den guten Verhältnissen von so manchem, da freue man sich allgemein, wenn es anderen auch mal gut gehe, wo wiederum andere ja selbst für Obst anstehen müssten, während der eine oder andere – sie schienen mir etwas durcheinanderzubringen – tatsächlich doch schon einen Westschlitten fahre. Und da sagte meine Mutter nur, dass es kein neues Auto gebe, und entfernte sich mit dem Kinderwagen und einem sozialistischen Gruß. Und wir gingen raus, und meine Mutter guckte auf die Betonplatten und sagte, dass ich zu alt sei für den Kindergarten.
    Deshalb saß ich zu Hause, als die Mauer fiel, und spielte mit meinen Murmeln. Es war schon dunkel und ich hatte meinen Schlafanzug angezogen. Meine Mutter guckte fern, und mein Bruder saß auf ihrem Schoss. Er war erst im Frühling geboren und noch so klein, dass ich über ihn vorerst nur sagen kann: Er zog mich an den Haaren. Der Mann im Fernsehen saß an einem Schreibtisch und sagte, dass ab sofort jeder reisen dürfe. Sie wechselte den Sender, und da lief das Gleiche noch einmal. Nicht, dass ich mich gelangweilt hätte. Aber ich ging in die Küche und guckte von dort aus dem Fenster auf die Klärgrube und die Wiese, und unten auf der Straße sammelten sich ziemlich viele Menschen.
    »Rote Socken raus«, brüllte dann einer. Ich machte das Fenster auf, steckte den Kopf raus und winkte zu ihnen runter, |36| und dann drehten sich viele Gesichter zu mir nach oben, und sie brüllten, dass rote Socken jetzt rausmüssten und dass die Mauer auch wegmuss. Auf einigen Balkonen schlurften Menschen, die man bisher nur in Straßenkleidung gekannt hatte, in Pyjamas und Pantoffeln und mit eingedrehten Haaren bis zum Geländer. Auch sie beugten sich herunter, um zu schauen, was los war.
    »Was ist eine rote Socke?«, fragte ich meine Mutter, die, kaum dass sie das Fensterknarren gehört hatte, blitzschnell in die Küche kam. Dann guckte auch sie aus dem Fenster.
    »Sind die betrunken?«, fragte sie.
    »Was sind rote Socken?«
    »Ich denke, die kommen gerade erst aus der Fabrik.«
    »Oh, Fabrik!«, sagte ich, als wäre jetzt alles klar, und stellte mir die Fabrik vor wie unsere Wohnung: Die Waschmaschine läuft, der Trockner rumpelt. Papa kommt mit Kohlen aus dem Keller, während die Suppe auf dem Herd überkocht, Mama bügelt rote Socken, hört Radio, meine Schwester und ich hüpfen über den Teppich, einer fällt dann immer und knallt mit dem Kopf gegen den Wandschrank oder die Tischkante oder gegen einen der 20 Pflanzentöpfe, die aus dem Wohnzimmer so eine Art Wald machen, und heult dann, und das ist so eine richtig schöne Fabrik, unsere Fabrik mit roten Socken.
    Meine Eltern gingen aber sonst in keine Fabrik. Sie hatten ein Institut und gossen dort Pflanzen, befühlten ihre Blätter im Gewächshaus, notierten sich auf ihren Feldern etwas

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