Das Paradies
von dem man noch nichts weiß. Es gibt unzählige Dinge, die man nicht weiß, zum Beispiel ob ein Regenwurm weiterlebt, wenn man ihn in zwei Teile schneidet, wie eine Katze den Sprung von einer Mauer unbeschadet überleben kann oder wie Eiscreme hergestellt wird. Man weiß, dass man es nicht weiß, das ist nicht schlimm. Man kann ja jemanden fragen, wie das geht. Schwieriger ist es, wenn man nicht weiß, was man nicht weiß.
Apropos Auto. Auf dem Heimweg stehen wir plötzlich im Stau, eingezwängt zwischen etwas schrottig aussehenden Autos, die weder Trabi noch Wartburg sind, aber dafür bunt und ein bisschen rostig. Sie haben ein rotes Nummernschild und so weit ich das überblicken kann, ist die Straße bis hinten zur Tankstelle auf beiden Fahrspuren wie von einer Blechlawine |32| verschüttet. Neben der Tankstelle hat jemand ein paar Fähnchen aufgehängt und die heranfahrenden Autos parken dort und bekommen ein Preisschild. Meine Mutter liebt Autos. Sie weiß über einen Sechszylindermotor mehr als die meisten, die einen haben. Wir schauen uns also gleich ein paar der Autos an.
Zu Hause macht sich meine Mutter einen Wermut mit Eis. Eis ist etwas sehr Wichtiges geworden. Und die Eiswürfelproduktion wird in der neuen Gefriertruhe ungeheuer liebevoll vorangetrieben. Wenn es an etwas nicht mangelt, dann sind es Eiswürfel. Eiswürfel im Wermut, in der Limonade, im Wein. Es ist herrlich. Es ist wie in amerikanischen Serien und Western, in denen die reichen, so gepflegt aussehenden Leute immer Eis in ihre Drinks fallen lassen. Obwohl wir das eigentlich gar nicht wollen, benehmen wir uns in dieser Hinsicht wie richtige Amerikaner. Oder so, wie ich mir einen Amerikaner vorstelle: einer, der immer Eiswürfel hat, einen Hut, ein Lasso und Kaugummis.
Es ist Wochen her, dass mein Vater zuletzt mit mir gesprochen hat. Er ist schon lange so etwas wie ein Weiser, der Dinge murmelt, kaum in ganze Sätze verpackt, die man nicht versteht, die klingen wie Wahrheiten. So etwas wie: »Wirst schon sehen!« oder »Die Vögel fliegen tief«, und das heißt dann etwas. So wie ein Horoskop.
Jetzt sitzt er auf dem Sofa, verlässt das Sofa nie, sitzt tagsüber auf dem Sofa, isst auf dem Sofa, schläft manchmal auf dem Sofa, während der Fernseher bis spät in der Nacht läuft. Das Licht einer Rotlichtlampe scheint auf sein rechtes Ohr, er hat eine Hirnhautentzündung oder noch Mumps, ich weiß nicht mehr genau. Während er seine Tage auf dem Sofa verbringt, schwimmen hinter ihm kleine Fischchen in |33| einem kleinen Aquarium, und wenn ich die Fische füttere, rieselt das Futter langsam, wie Staub, auf den Kopf meines Vaters.
Das geht schon lange so, Wochen, Monate, ich habe nicht mitgezählt, das geht so, seit ich mit meiner Mutter und meinem Bruder vor dem Fernseher saß und zugeguckt habe, wie dort im Fernsehen Menschen in Trabis und wirren Frisuren über die Grenze gefahren sind. Meine Mutter war die ganze Zeit still, murmelte nur manchmal, sie sei gespannt, wie es weitergeht. Aber die Sendung lief schon den ganzen Nachmittag. Ich saß zu Hause, weil meine Eltern mich aus dem Kindergarten herausgenommen hatten, weil ich dort eine Geschichte erzählt hatte, die meine Eltern leider nicht mochten. Wir mussten uns im Kindergarten im großen Schlafsaal alle in einen Kreis setzen, 15 Fünfjährige ungefähr und eine Kindergärtnerin, nämlich Tante Beate, und die fragte jeden: »Und was macht denn dein Papa?« – »Zu meinem Papa fällt mir nichts ein«, sagte ich, und Tante Beate schaute mich merkwürdig an. »Ich glaube, er war mal Soldat und …« Wenn ich schon nicht wusste, was mein Vater eigentlich machte, denn er war weder Maurer noch Bäcker noch Fabrikarbeiter, er machte etwas auf einem Feld und am Computer, und das habe ich überhaupt nicht verstanden. Aber wenn man nichts weiß, muss man sich etwas einfallen lassen, was alle von den Sitzen reißt: »… und fährt einen VW.« Punkt. Tante Beate hat große Augen gemacht und ich dachte: »Toll gemacht«, und habe auf die Bewunderung gewartet. »Bist du dir sicher, dass ihr einen VW habt?«
»Ja«, sagte ich, »ganz neu, steht noch in der Garage, hat noch niemand gesehen.« Das hatte ich mir gut ausgedacht. Denn Tante Beate wohnte ja auch in der Siedlung, und die |34| hatten eine Garage nicht weit von unserer, und da musste man dran denken, wenn man behauptete, dass wir ein neues Auto hätten. »Ich glaube nicht, dass sich dein Vater einen VW kaufen würde.« Das glaubte ich
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