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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Vater entsetzt: »Also, das macht doch jetzt keinen Sinn, wenn ich da etwas sage, wo doch niemand da ist.«
    »Wir sind da. Also wirklich! Das ist ja, als würden Sie sagen: Die Frauen des Demokratischen Frauenbund Deutschlands sind niemand.«
    »Ich meine, nein, natürlich nicht. Aber …«
    Seine Augen werden ganz groß und gucken abwechselnd sie und dann die Frauen im Saal an, weil die Frau die große Flügeltür festhält, und dann merke ich, wie er eine Bewegung macht, die wie Rückzug aussieht. Aber im Saal haben sie uns sowieso schon gesehen und bitten uns jetzt unter lauten Anfeuerungen hinein. Mein Vater beugt sich zu mir runter, und das Letzte, was er zu mir sagt, ist, dass ich mich absolut unauffällig verhalten solle, mucksmäuschenstill soll ich sein, nicht stören und nichts anfassen. An vier Tischen sitzen bestimmt jeweils 15 oder 20 Frauen. Ich setze mich an einen Tisch ganz vorn vor die Bühne, neben die Frau von der Tankstelle, und meine Hausärztin schaut mich von der anderen Seite genauso streng an, wie sie es tut, wenn sie mir die Lunge abhört. Eine Frau, die mir direkt gegenübersitzt, kenne ich nicht, sie stellt mir aber gleich ein Stück Kuchen hin. Der Kuchen ist schön und die Frau ist auch schön, so was habe ich ja noch nie gesehen: einen bunten Kuchen und eine Frau mit langen blonden Haaren. Ihr Arm ist bedeckt mit einem ganz hellen Flaum und ich wünsche mir, auch ganz viele Haare auf dem Arm zu bekommen, und beschließe, in den Demokratischen Frauenbund einzutreten und Kommunistin zu werden. »Papageikuchen«, sagt sie und lächelt mich |43| an, so liebevoll, so herzlich, so vertraut, dass ich nur eines will, nämlich ihre Haare flechten.
    In der Zwischenzeit ist mein Vater offenbar auf der Bühne angekommen. Ich höre ein Räuspern durch die Lautsprecher und sehe seine Hände am Mikrofon herumdrehen. Er ist ziemlich klein.
    »Nun, ähm, die meisten von Ihnen kennen mich sicher. Heute spreche ich in ehrenamtlicher Funktion eines stellvertretenden Parteisekretärs der SED dieser Stadt zu Ihnen. Ich bin dann wohl der einzige von den Eingeladenen, der gekommen ist. Alle anderen Vertreter von Parteiebenen der SED, Blockparteien bzw. Massenorganisationen sind, wie es aussieht, nicht anwesend.« Grün und rot und gelb ist der Kuchen, ja, sie hat absolut recht, die blonde, schöne Frau, es ist ein Papageikuchen. Auf dem Tisch stehen auch eine Torte mit Tortenheber und ein Blumengesteck, das aber nicht echt ist, sondern aus Plastik, das teste ich immer, wenn ich Pflanzen irgendwo in Töpfen sehe, weil man ja manchmal auch denkt, dass die unecht sind, und dann knickt man sie um, und sie waren doch echte Pflanzen. Und dann hat man jemanden umgebracht. Und das gehört sich nicht. Die hier sind nicht echt, ihre bunten Blüten ziehen Fäden. Kerzen stehen auf niedrigen Porzellanständern in Form von Delphinen mit Glitzer dran.
    »Denen ganz oben sollte man mal kräftig auf die Finger klopfen«, sagt die Frau von der Tankstelle.
    Mein Vater stockt. Ein strenger Blick. Ich höre auf zu kauen. Dann spricht er mit dem Kronleuchter.
    »Und so wurde ich in Ermangelung anderer gebeten, ein paar Worte an Sie zu richten. Doch was soll ich Ihnen sagen? Ich habe noch nie eine Rede gehalten.« Ich suche einen |44| Löffel, um den Kuchen zu essen, weil man Kuchen nicht so einfach mit den Fingern essen darf. Jedenfalls, wenn Fremde zuschauen. Eine Frau am Tisch holt zwei große Nadeln raus und ein Wollknäuel und beginnt zu häkeln.
    »Langer Rede kurzer Sinn: Möglicherweise werden alle miteinander in naher Zukunft mit Dingen konfrontiert werden, die heute noch keiner glauben kann. Wichtig ist allerdings, dass man fair miteinander umgeht. Gibt es Fragen?«
    Keiner sagt etwas.
    »Demokratie ist ein offener Diskurs. Ich möchte Sie ermuntern, nun zu reden.«
    Stille.
    »Na, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.«
    Mein Vater verlässt die Bühne und geht steif zur großen Eingangstür mit den bunten Gläsern, die man nur aufschubsen muss und deren Flügel noch lange hin- und herschwingen, wenn einer durchgelaufen ist. Er geht durch, die Türen schwingen. Dann stehe ich auf und renne hinterher. Draußen sehe ich meinen Vater den Trabi aufschließen und renne zu ihm. »Da bist du ja. Wo warst du?«, sagt er.
     
    Ehe ich antworten kann, kommen zwei Männer über den Platz gelaufen und heben beide lässig die Hände, als würden sie uns kennen, und sagen »Moin«. Ich solle einsteigen, sagt mein Vater, und

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