Das Paradies
in ein Formular. Wenn sie daraus eine bestimmte Erkenntnis gewonnen hatten, wurde diese allen landwirtschaftlichen Betrieben in der Nähe mitgeteilt. Ich saß oft auf dem Acker und atmete den Geruch der kühlen Erde ein. Im Sommer, |37| wenn das Korn auf den Feldern schon gelb und trocken geworden war, rannten meine Schwester und ich in die Felder und versteckten uns zwischen den Halmen. Bis meine Mutter mit dem Mähdrescher kam. Meine Mutter fuhr diesen Mähdrescher, und ihr von der Sonne braungebranntes Gesicht strahlte dabei. Ihr rollte auf dem Feld ein Lastwagen hinterher, und der Mann brüllte ihr immer zu, dass sie endlich geradeaus fahren solle. Sie war sehr gründlich, sehr konzentriert, und man konnte durch die Sonnenbrille nicht immer erkennen, ob sie uns sehen konnte, aber dann pfiff sie nach uns, und wir rannten zu ihr, und dann brüllte sie etwas vom Mähdrescher herunter, weil sie fast taub vom Lärm war, und wischte sich mit einem zerrissenen Lappen den Schweiß aus dem Gesicht und lachte. Sie sah aus wie ein Filmstar. Ein Filmstar, der Mähdrescher fährt. Am Abend roch sie nach Benzin und Seife. Vielleicht wäre das ein guter Moment gewesen, alles anzuhalten.
Man sprach sie mit »Frau Doktor« an und ich dachte, alle, die einen Mähdrescher führen, hießen Frau oder Herr Doktor, und ich habe dann auch alle anderen mit Herr oder Frau Doktor angesprochen, auch noch viel später, als ganz andere die Maschinen lenkten.
Oder: »Oh, deine Mutter hat einen Doktor. Ist sie denn Arzt?«
»Nein, sie fährt Mähdrescher.« Hier hat der andere dann immer gelächelt. Aber schon damals vermutete ich, dass das etwas sehr Seltenes war, dass eine Frau Doktor hieß und kein Arzt war. Warum sollte auch jemand da, wo keiner mehr als der andere hat, einen Titel vor den Namen bekommen?
Das Institut war ein langes, niedriges Gebäude mit kleinen Fenstern, dazu ein Gewächshaus und Scheunen, wo der |38| Traktor stand. Hinter dem Haus lagen ein kleiner Garten, in dem bestimmte Kartoffeltypen gezüchtet und untersucht wurden, und ein Brunnen, der auf alles aufpasste. Er war gelb und hatte einen großen Hebel, mit dem man Wasser nach oben in den Hahn pumpte. Wir warfen meist Steine in das Loch und warteten auf das Geräusch, wenn der Stein ins Wasser fiel. Es dauerte extrem lange und dann hörte man das Platschen. Es klang, als wäre er in den Pazifik gefallen. »Papa, der Stein ist bestimmt in Amerika gelandet.«
»Fein«, sagte mein Vater.
Regnete es, hockte ich im Büro und guckte Silvio zu, wie er etwas in einen Computer tippte und mit der Nase schniefte. Silvio gab mir ein Blatt Papier und Buntstifte, und ich sollte malen, während er wieder auf seinen Computer guckte, so arglos, so wie ein Eichhörnchen sah er aus, und wenn ihm etwas nicht passte, merkte man das sofort, weil er kräftig stöhnte und brummte und alles möglichst laut auf den Tisch knallte. Und ich malte dann einen Panzer, in dem eine Familie wohnte. Zum Frühstück gab es für alle Hackbrötchen mit Zwiebeln. Mittags gab es Hackbrötchen mit Zwiebeln und am Nachmittag manchmal Kuchen und Kaffee oder Hackbrötchen mit Zwiebeln.
Worüber haben sie damals gesprochen? Ich weiß es nicht. Mutter, worüber hat man damals gesprochen? Ich weiß es nicht mehr.
Es schienen modellierte Tage zu sein, nichts Unvorhergesehenes, keine Überraschung, als hätte es nichts zu beschützen, zu bekämpfen gegeben, als hätte niemand scheitern, umfallen, sterben können. Keine Eile und kein Grund, heute etwas anderes zu machen als gestern. Jeder schien genau zu |39| wissen, was zu tun war, nie stand jemand rum oder suchte etwas. Alles hatte seinen Platz. Nie Unordnung. Vielleicht war auch nicht genug da, um Unordnung zu machen. Es fühlte sich an, als könne sich nie etwas ändern, und manchmal habe ich darüber nachgedacht und gedacht, dass das eigentlich ganz schön so ist, weil man genau weiß, wann man Geschenke bekommt, also dass jedes Jahr Weihnachten und Geburtstag ist und Erntedankfest und Bastelnachmittage und das Schlachten auf dem Hof meiner Großeltern und der Geburtstag von Mama. Gut war auch, dass man jeden Tag irgendwo abgeholt wurde und dass jeder wusste, wo der andere war. Andererseits fand ich es unheimlich, dass sich nie etwas änderte. Würde ich immer das gleiche Dreirad haben und das gleiche Kinderzimmer? Später nämlich, ich weiß es genau, als alle sagten, die Mauer muss weg und jetzt wird alles anders, war ich erleichtert. Der Grund
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