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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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peinlich, schon zeichne sich hier ein Problembezirk ab, das sei nicht gut, denn man brauche Touristen. Über viele Jahre hatten sich einige Schlaglöcher in die Wege gebohrt, wie kleine Bombenkrater sprenkelten sie die großen, dicken Betonplatten der schmalen Straßen. Um 1995 herum kam also die erste große Veränderung, die uns glücklich machen sollte. Die Schlaglöcher wurden ausgebessert. An diesem Morgen, als ich den Bahnhofswärter schon von einiger Entfernung den Garten mit der Harke durchkämmen sah, in Gedanken versunken, trat ich in die erste, noch schlickhafte Masse weißen Betons. Wie in Treibsand sickerten meine Füße hinein. Was Beton war, wusste ich nicht. In meinen Comics gab es Moore und Treibsand, und ich hielt diese Masse wohl für Treibsand, weshalb ich die Füße einen nach dem anderen aus der glucksenden, zähen Masse herauszog, indem ich mich sofort auf den Boden legte, und sie dann nicht besonders gründlich am Bordstein abstrich. |26| In der Schule begrüßten mich schon andere mit ebenfalls betonverklebten Schuhen. Ein zartes, kleines Mädchen hatte sogar bis zu den Waden im Beton gesteckt. Ich fragte mich, wo sich wohl das so tiefe Loch befand.
    Wir lachten uns gegenseitig aus, lachten darüber, wie bescheuert der andere war, verglichen, wer mehr Beton an den Waden hatte, wer ihn schon ins Gesicht und in die Haare geschmiert hatte, überlegten, ob man deshalb jetzt Ärger bekommen würde, und diskutierten lange über das beste Rettungsprogramm, wenn man im Treibsand steckt, bis nach und nach der Schlamm an den Füßen hart und schwer wurde. Jeder Kieselstein, auf den wir traten, jede Art von Dreck drückte sich in unsere Klumpfüße hinein und blieb stecken. Das Gehen fiel allen bald sehr schwer.
    Die Fortschritte der Bauarbeiten konnten wir immer an uns selbst ablesen. Wurde eine Straße aufgerissen, um neue Rohre zu verlegen, fielen mindestens zwei Kinder in die Straßengräben. Zuletzt kam schwarzer Teer auf die Straßen. Riesige Walzmaschinen rollten über die dampfenden Straßen. Für diesen Teer, der lange heiß und ätzend in der Luft hing und sich oft auch auf unsere Haut legte, hatte sich immerhin eine Art Hausrezept finden lassen. Wir wurden von oben bis unten mit Butter eingerieben. Manche als Präventivmaßnahme, schon bevor sie mit Teer überhaupt in Berührung kamen. Die Fußabdrücke im Beton sind nicht ausgebessert worden. Man sieht sie vor dem Supermarkt, auf Gehwegen und Parkplätzen, versteinert wie Spuren von Dinosauriern.
     
    Vor dem Eingang des Supermarktes blinzelt meine Mutter in die Februarsonne, kalte Schlagermusik kommt aus Boxen, Luftballons mit dem Supermarktnamen darauf. Sie wirkt etwas |27| verloren. Dabei ist unser Einkauf doch so toll gelaufen, wir haben so viel gekauft, dass wir noch eine Plastikkiste kaufen mussten, um alles nach Hause schleppen zu können. Und ich denke immer noch an das Süßigkeitenregal, als ich Lucian sehe.
    Lucian steht mit seiner Mutter vor einer Würstchenbude. Sie hat einen Plastikbecher in der Hand und müde, glasige Augen. Sie lacht und drückt mich fest. Sie riecht, wie Stefan Meyer nachts riecht. Auch Lucian steckt im Indianerkostüm. Ich beneide ihn sofort um seine roten und gelben Federn und ärgere mich, dass mir niemand so was kauft. Er erzählt, dass letzte Nacht ein großer LKW aus einer Kurve geflogen und mitten in das Bordell im Nachbardorf hineingefahren ist. Wir lachen. Das ganze Haus ist eingestürzt? Nein, nur die Hälfte. Wir lachen. Ich stelle mir vor, wie es aussieht, wenn ein LKW die Hälfte eines Hauses über den Haufen fährt und man nun in die stehengebliebene Hälfte des Hauses hineinschauen kann wie in ein Puppenhaus, stelle mir vor, dass jemand im Nachthemd aus dem Bett steigt, geweckt vom Lärm, weil das Haus einstürzt. Das Dorf heißt Dasdorf und ich will ihn noch fragen, was im Bordell so eigentlich passiert, und erinnere mich, dass wir da nebenan in der Scheune die Bananen am Hintereingang abgeholt haben, und frage mich, ob das die gleichen Leute betreiben, und denke, dass die Hauptstraße doch viel zu klein ist für einen LKW. Es dämmert, als ein Junge mit schmutziger Nase, der Sohn von Stefan Meyer, der, seit er fünf Jahre alt ist, nicht mehr wächst, aus irgendwelchen Büschen herausgelaufen kommt und sagt, dass ein Zermatschter auf den Gleisen liegt. Polizei. Krankenwagen. Alle da. Stefan Meyer steht da und guckt, als hätte sein Sohn eine Bank überfallen, und schnauzt ihn vor versammelter

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