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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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dafür schreibt sich Latzhosen. Ich hatte Latzhosen in allen Farben, rot, grün, als Cordlatzhose, als Jeanslatzhose, weiß-blaugestreifte Stofflatzhose, Latzhose mit kurzen Beinen, Winterlatzhose mit Watte gefüllt. Und ich hasste Latzhosen. Wenn sich alles änderte, dachte ich, mussten sich folglich auch die Latzhosen ändern. Und das taten sie auch. Leider kaufte meine Mutter für uns dann als Erstes zusammen mit dem Videorekorder auch Trainingsanzüge, und die waren noch bescheuerter. Ich will nicht sagen, dass die Leute keinen Geschmack hatten, aber er war sehr anders als der ihrer Kinder oder des Rests der Welt. Was war in sie gefahren? Bis zur Unkenntlichkeit geschminkte Frauen. Leuchtend blonde Strähnen in den Haaren. Als müsste jetzt nachgeholt werden, was man 40 Jahre verpasst hatte. 40 Jahre Sozialismus mussten weggefärbt werden und in bunten Trainingsanzügen verschwinden. |40| Im ersten Moment fällt es einem ja gar nicht wirklich auf, doch rückblickend betrachtet sah man in dem neonblauen, mit rosa Blitzen bedruckten Trainingsanzug aus wie ein Clown. Später behaupteten alle, man habe sich dem Westgeschmack anpassen müssen. Das Gegenteil war der Fall: Vom Musikgeschmack bis zu den Tischtüchern haben sie alles selbst ausgetauscht, ganz ohne Drohungen. Ein Verkauf des Selbst, der auf Ahnungslosigkeit basierte, so wie der Indianer das Feuerwasser nimmt und danke sagt und noch nicht weiß, dass es ihn zugrunde richten wird.
     
    Ich suche für einen Moment im Schrank unter dem Aquarium ein Netz, um einen der glubschäugigen Fische herauszuholen, der schon längere Zeit bewegungslos im Wasser treibt, und als ich wieder hochkomme und mit dem Netz ins Wasser tauche, sehe ich meinen Vater nicht mehr. Angesichts der Wunder, die seit einiger Zeit in der Wohnung vor sich gehen, zum Beispiel das Wunder
Film wird von einer schwarzen Kassette abgespielt,
das Wunder
Holz an der Wand, das sich anfühlt wie eine Tapete
oder das Wunder
Mikrowelle,
das Wunder
Heizung,
das gegen das Wunder
Eisblumen am Fenster
eingetauscht wurde – angesichts dieser Wunder bin ich bereit zu glauben, mein Vater sei in den Fernseher hineingegangen oder in das eigenartige Kupferbild an der Wand mit einer Frau drauf, die ein langes Kleid trägt, das vom Wind durcheinandergebracht wurde, und einen Bogen in der Hand hält. Das habe ich mal in einem Film gesehen, also dass Menschen auch in Bildern verschwinden können. Dann raschelt hinter mir etwas, ich drehe mich um, und er steht da mit meiner Jacke und Schuhen und sagt, ich solle mich anziehen, wir müssten los.
    |41| Wir fahren im Trabi raus aus dem Viertel, eine Landstraße entlang, in die Stadt hinein, die ich gut kenne, da ist das Institut. Ich habe das Gefühl, mich gut zu verstehen mit meinem Vater, auch wenn wir nichts reden. Er redet manchmal mit sich selbst, das kommt, glaube ich, von der Hirnhautentzündung. »Wohin fahren wir?« – »Zur Wahlversammlung des Demokratischen Frauenbunds.« Ich bin verwirrt. Demokratisch? Heißt das, auch sie sind vom Kapital regiert?
    Vor dem Rathaus fährt mein Vater etwas langsamer. Er fährt um das Rathaus einmal herum und parkt ziemlich umständlich ein, obwohl auf dem ganzen Vorplatz nur drei Autos stehen. Als wir in das Rathaus reingehen, wird es sofort dunkel und stickig. Von weitem hören wir aus dem Saal, den ich vom Fasching kenne, schon viele Frauenstimmen und Gläserklirren, und mein Vater zittert und schwitzt, was ich auf seiner Stirn und an seinem Hemd sehen kann. Dann kommt eine Frau raus und erschreckt sich, dass da zwei stehen vor der Tür, und sagt: »Ach schön, dass doch noch ein Genosse kommt. Immer rein in die gute Stube.« Als sich die Saaltür öffnet, wird es wegen der großen Fenster im Saal gleich so hell, dass wir die Augen etwas zusammenkneifen, und die Frau sagt zu meinem Vater, dass es schön wäre, wenn er ein paar Worte an die Frauen richten würde, denn der eigentliche Redner sei nicht gekommen, überhaupt sei kein Mann und schon gar kein Genosse gekommen, und jetzt sitze man hier etwas ratlos herum. »Das verstehe ich nicht, also wirklich, das ist hier eine Wahlversammlung des Demokratischen Frauenbund Deutschlands und da ist kein Genosse, also da sind die Sitten aber wohl gleich eingebrochen«, sagt sie und stützt etwas verärgert die Hände in |42| die Hüften. »Wie, es ist kein Mann da? Kein Vertreter der Bezirksleitung?«, fragt mein Vater. »Keiner«, sagt die Frau. »Da müssen Sie jetzt reden.«
    Mein

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