Das Paradies
schaden kann.
Am Nachmittag stehe ich dann auf dem Kiesparkplatz vor der neu gebauten Schule, ein flacher, weißer Bau, in dem wir der erste Jahrgang überhaupt waren und alles nach frischer Farbe roch, und warte auf meine Mutter und sehe, wie die Lehrer rauskommen und die Putzfrau reingeht und mit knallblauen Tüchern den Boden zu wischen beginnt. Seit neuestem ist das jetzt so, dass meine Mutter um drei Uhr kommt, wenn man ihr zwei Uhr gesagt hat. Dann knattert sie mit einer irren Geschwindigkeit durch die Schlaglöcher über einen Bordstein über den Kies und hält mit einer Vollbremse genau vor meinen Füßen. Ich muss mich beeilen mit dem Einsteigen, dann fährt sie los.
Im Klassenraum, wo meine Mutter jetzt umgeschult wird, ist die Luft stickig.
|48| »Mama, ich glaube, ich habe Fieber.«
»Du hast kein Fieber.«
»Es ist vielleicht auch Mumps.«
»Du hast kein Mumps.«
»Ich habe Hunger und Fieber.«
»Ich habe noch einen Apfel in der Tasche.«
»Ich will keinen Apfel.«
Meine Mutter verzieht keine Miene und schaut auf den Computerbildschirm.
»Mama, ich glaube, ich habe eine Hirnhautentzündung.«
Ein paar Leute drehen sich zu uns um, die Frauen sehen besorgt aus und die Männer genervt. Dann kommt der Lehrer von meiner Mutter, gibt mir ein Milky Way und sagt: »Soll ich dir mal was zeigen?« Er klickt mit einer Maus herum und zeigt mir ein Kartenspiel am Computer und erklärt, wie es funktioniert. Farben nach Farben sortieren. Solitär heißt das Spiel. Dann geht er wieder an seinen Tisch vor der ich nenne sie mal Klasse.
»Gut, dann machen wir weiter mit der Integration in die neue Welt. He, he … Nur ein Spaß.« Er räuspert sich und fragt, ob es allen auffalle, dass er sich so räuspere, wie Beethovens Neunte klinge. So nämlich: Rämrämräm räääm. Sein Publikum tauscht Blicke aus und zieht die Schultern hoch, und ein Gemurmel geht los: »Ja, ne, irgendwie rausgehört … lag mir auch schon auf der Zunge.«
»So: Das war Excel, wir üben das nachher gleich noch mal, aber sind Sie so weit, sich an etwas anderes zu trauen? Ja? Dann gehen wir jetzt mal auf ›Start‹, ›Programme‹, und öffnen Word, W-O-R-D, das ist englisch. Wer weiß, was es heißt?«
|49| Jemand brummelt: »Wort.«
»Genau.« Er dreht den Daumen nach oben und lächelt. »Sehr gut, sehr richtig.«
»Glauben Sie mir, ich bin nicht gekommen, um Ihnen hier ihre Fähigkeiten abzusprechen. Wir nähern uns am besten alle gemeinsam an. Man braucht Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Wir sind ein Volk und wollen auch ein Volk werden.«
Der Mann vorn redet die ganze Zeit, fast ununterbrochen, schon als er die Tür aufmacht, fängt er damit an: dass er sehr froh ist, mal den Osten zu sehen, und das alles superspannend findet und froh ist, dass wir jetzt alle zusammengehören. Und dann fragt er sich: »Ich frage mich, wie sich das für Sie anfühlen muss. Na ja, herzlich willkommen in der BRD, also Deutschland.« Dann verteilt er Tchibo-Aufkleber und »Ein Herz für Kinder«-Aufkleber. Und alle sagen danke.
»Was Sie lernen müssen«, sagt er jetzt, als alle noch nach diesem Programm suchen, »ist, dass Sie hier für sich kämpfen, ganz allein.« Ängstlich schauen einige auf. »Nein, das ist nicht schlecht, sondern gut, Sie sind ein Wolf, ein Tiger. Sie dürfen sich nichts gefallen lassen. Job verloren? Weitermachen. Sie waren doch nicht schlecht in der Zone, in Mathe und Sport zumindest, nicht wahr? Und was die Dresdner Stollen angeht, da hätte man gut und gerne ein paar von uns Wessis in Dresden fotografieren können, wie wir mit unseren ersten Dresdner Stollen stolz aus der Kaufhalle kamen. In anderen Städten reden die Menschen eben auch nur über andere Städte.«
Dann fordert er alle auf, an die Zukunft zu denken. Er entschuldigt sich für einen Moment und geht mit Anlauf aus dem Raum.
|50| »Verdammt noch mal, lass das«, ruft meine Mutter, als ich versuche, auf den Tisch zu steigen.
»Ich hab Fieber, ich muss mich hinlegen«, sage ich.
»Also, wer flucht denn hier?«, sagt eine Frau in der ersten Reihe.
»Kleiner Rebell«, flüstert ein Mann, der an einem Computer gleich neben meiner Mutter sitzt. »Das legt sich hoffentlich wieder«, sagt meine Mutter zu ihm, und er lacht laut, und ich denke, dass ich den schon mal bei uns am Getränkekiosk gesehen hab. Er ist groß und schmal und hat kurze, dunkle Haare, die glänzen. Er sieht jung aus. Wie einer, bei dem man noch nicht sehen kann, wie er ist und
Weitere Kostenlose Bücher