Das Paradies
an. Der Regen spülte mit der Zeit die Lacke und Farben aus den Dingen, der große Haufen wurde grau, und die Farben und Lacke sickerten als giftiger Schleim langsam in die Erde, in unser Grundwasser. Also musste der ganze Müll umgeschichtet werden, es war ein monumentaler Anblick: Riesige Maschinen, die einen Haufen toter Wohnzimmer umschichteten. In diesem Moment habe ich die DDR begriffen, eigentlich das ganze Universum. Vergänglichkeit, Sterblichkeit. DDR ist so etwas schön Morbides. Das war letzten Sommer. Nur eines wunderte mich. Nämlich die Geschwindigkeit, mit der hier Gegenstände weggeschmissen wurden. Wenn Geschichte erst in den Dingen verständlich wird, dachte ich, dann kann man hier nichts mehr verstehen, weil es nichts gibt, womit man sich erinnern kann. Die Ostdeutschen, die ich kenne jedenfalls, sind keine Bewahrer, heben nichts auf, lassen nichts liegen, nicht für später, nicht für irgendwann, im Keller nur Kohlen, auf dem Dachboden nur Bretter oder kein Dachboden. Man muss sich, dachte ich etwas verwirrt, schon selbst zuerst zerlegen, bevor man von anderen erobert werden kann. Und das machen Ostdeutsche mit Freude. Und vielleicht habe ich deshalb einen Tick entwickelt, habe deshalb begonnen, alles Mögliche zu sammeln, zu archivieren und für alle Zeit aufzuheben. Im Herbst Blätter vom Ahornbaum, Kastanien, alte Schrauben, Zigarettenstummel, Bilder aus Zeitungen. Ich begann, Tagebuch |16| zu schreiben. Erster Eintrag 13. Oktober 1994: »Ich habe Geburtstag und einen Gameboy bekommen. Träume in der Nacht von Tetris.«
Als das Problem mit dem Müll gelöst war und keine Giftgase mehr in das Viertel hineinwehten, wurden die Fassaden mit Baugerüst und Planen verhüllt, wochenlang hingen Arbeiter an den Wänden, und als die Planen wieder abgenommen wurden, strahlte das frisch angestrichene Blau dieses Blocks so hell, als hätte jemand das Licht angemacht.
Hitler wollte da, wo jetzt das Viertel stand, einen riesigen Flughafen bauen. Das erzählte unsere Nachbarin gern. In Weimar begegnete man, wo immer man hinging, Hitler oder Goethe. In unserem Viertel begegneten wir täglich Margot Honecker. Als die Grundschule eingeweiht werden sollte – das war vor meiner Geburt, im Jahr 1981 –, kündigte sie sich als Festrednerin an. Und plötzlich wurden eilig Fußwege betoniert und Bordsteine gelegt, und auf die, sagte unsere alte Nachbarin immer, hätte man normalerweise zehn Jahre warten müssen, wäre eben nicht Margot Honecker gekommen, und nun müsse man diesem Drachen auch noch fast dankbar sein. Bei ihr, also bei unserer Nachbarin – sie wohnte direkt gegenüber unserer Wohnung –, bekamen wir warme Milch und weiche Kekse, wenn wir wieder den Schlüssel vergessen hatten. Sie hatte richtig lange Haare, was ziemlich besonders war. Grau-schwarz, in einem Haarnetz zusammengebunden, und wenn die Sonne drauf fiel, schimmerten sie wie Silber. Klein und zart war sie, ihre Knochen knackten, sie stöhnte oft, wirkte sonst aber munter. Ihre Worte hatten immer einen metallenen Klang. Sie sprach dialektfrei und streng in einem sehr deutlichen Deutsch. Angeblich war sie einmal |17| Sängerin gewesen. Die schweren, dunklen Gardinen und der dicke Perserteppich machten aus ihrem Wohnzimmer eine Art schalldichter Plüschpuppenstube. Darin trank sie ihren Tee so, als habe jemand es ihr befohlen. Sie: »Ihr Süßen, ich bin 86 Jahre alt und höre schlecht, bitte schreit nicht so rum, sonst werde ich wirklich noch taub.« Meine Schwester: »Sie sind 86 Jahre alt? Echt? Sie sehen gar nicht so aus. Höchstens wie 83.« Sie schlurfte ans Fenster und zog ein braunes, blumiges Tuch von einem nach oben spitz zulaufenden, goldenen Käfig, öffnete das Türchen, worauf der gelbe Kanarienvogel sogleich in Panik geriet und wild im Käfig herumflatterte. »Dann warst du ja auch im Krieg? Oder?« Sie nahm ein Döschen aus dem Käfig und füllte Körner hinein. Ihre spitze Nase zuckte. »Ach was. Krieg, ihr wisst doch gar nicht, was das ist.« – »Doch«, sagten wir beide gleichzeitig, »Krieg ist nicht gut.« Sie sagte nichts mehr, nur der Kanarienvogel begann mit seinem Gezwitscher. Als sie starb, landete auch der Käfig im Müll.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, fällt mir ein, dass sie eine von ganz wenigen alten Leuten war. Eigentlich gab es hier keine alten Leute, außer einem Mann im Rollstuhl, und der war gar nicht alt, der sah nur alt aus, weil er im Rollstuhl saß, glaube ich. Aber man zog ja in unser
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