Das Paradies
Viertel, um modern zu sein, und wenn man mich fragt: Alte Leute sind selten modern. Das wäre ja auch unheimlich, wenn sie modern wären, dann gäbe es dort keine Kekse und keine Geschichten. Unsere Nachbarin erzählte zum Beispiel, und das ist schon eine echt gute Geschichte, dass unser Block von russischen Panzern gebaut worden ist, in denen russische Soldaten saßen, die dafür, dass sie mit den Panzern Häuser bauten, zwei Flaschen Schnaps bekamen. Und wer |18| kann von seinem Haus schon behaupten, es sei von russischen Panzern gebaut wurden. Direkt neben unserem halbrunden Block führte ein schmaler Weg durch Gestrüpp in eine Kleingartensiedlung, die jeder nur »Das Paradies« nannte. Im Paradies rauchten wir unsere ersten Zigaretten und Joints, nahmen die ersten psychedelischen Pilze, wurden verprügelt und gejagt, die meiste Zeit haben wir uns dort versteckt. Im Paradies haben wir gegrillt. Im Paradies brannten später alte Trabanten aus. Im Paradies hat man die Platten nur vage durch die Baumwipfel gesehen. Im Paradies wurden Anfang der Neunzigerjahre stillgelegte Bahngleise für den ICE München–Berlin wieder in Betrieb genommen. Es war der goldene Zug Richtung Westen. Wir bewunderten die glatten, rot-weißen neuen Züge. Sie waren mit Sicherheit schneller als die Traktoren, die meine Mutter übers Feld gejagt hatte und über die sie nicht müde wurde zu erzählen. Sie erzählte, wie schnell und sauber und besonders modern die Technik der DDR gewesen sei. Doch das war etwas anderes. Hier rauschten Weltraumkörper auf einer kleinen Anhöhe, gesäumt von ein paar Wacholderbüschen gegen den Lärm, an unserem Viertel vorbei. Wir wären gern mitgefahren.
Bevor man zum Ausgang der Siedlung kam, wo der Schaffner seine Harke hob, musste man quer durch die ganze Siedlung, vorbei an vier großen Plattenbaureihen laufen, die so dicht beieinander standen, als frören sie. Zwei kurze Reihen standen quer, zwei längere mit zwölf Eingängen und drei Etagen schlossen die kleine Siedlung wie riesige Mauern ab, jede Wohnung mit einem Balkon, einige mit Blumentöpfen, alle mit den gleichen Blumentöpfen, in denen im Sommer überall die gleichen Blumen blühten. Klein und gedrungen wackelten sie im Wind. Ich erinnere mich, wie einige Jahre |19| zuvor an einem bestimmten Tag sehr viele Fahnen vor die Fenster gehängt wurden. Tag der Gründung der DDR vermutlich. In diesen Tagen, im Februar, verhedderte sich nur noch eine Fahne des untergegangenen Staates vor dem Fenster unserer Nachbarin, die gerade gestorben war, was wir allerdings erst einige Tage später merkten. Als wir es merken, müssen meine Schwester und ich hinter verschlossener Wohnungstür ausharren, bis der Krankenwagen die Leiche weggefahren hat, und ich frage meine Mutter, wohin unsere Nachbarin jetzt kommt. »Sie kommt ins Grab, sie ist tot.«
»Wie ist es, wenn man tot ist?«
»Dann ist man ganz einfach nicht mehr da.«
»Kommt man in eine andere Welt?«
»Nein, da kommt man nirgendwohin.«
»Ist es so, als würde man träumen?«
»Es ist nichts.«
»Schwarz?«
»Ja, schwarz.«
Statt der DDR-Fahnen jedenfalls hingen jetzt lustige kleine Blumentöpfe an den Balkonen, und die Gardinen hinter den Fenstern wurden immer bunter. Keine lauten Gelage an den Kellertreppen hinter dem Haus, keine Rufe, kein Lachen und kein unendlich lange anhaltendes Geraune in der Nacht, was so nervte und so schön war. Es zogen, wenn es Sommer wurde, am Abend von den Balkonen nur Grillgeruch und leise Schluckgeräusche durch die Luft.
Ich war spät dran auf dem Weg zur Schule, blieb trotzdem beim Bahnhofswärter für einen Moment stehen und sah zu, wie er grimmig die Harke hob, während ich mir wünschte, dass die Schule einfach verschwinden würde oder abbrennen oder unwiederbringlich zerstört worden sei durch ein Erdbeben. |20| Was für eine Befreiung das wäre! Aber das würde niemals geschehen. Die Schule wird leider niemals abbrennen, es wird sie ewig geben und Lehrer auch und die sind immer alt und sterben trotzdem niemals. Ich schlurfte weiter.
Mittlerweile war ein Haufen Zäune um alles Mögliche gezogen worden. Besitz wurde mit Maschendraht angezeigt. An einer Stelle wurden drei Nadelbäume eingezäunt. »Zum Schutz«, sagte der Mann in der ABM, »damit du da nicht reinlatschst, Kind«, sagte der Bahnhofswärter, die Harke schwingend. Außer den Kindergärtnerinnen, waren viele ihren Job los und standen auf der Straße herum. Wer als ABM-ler arbeitete, pflegte
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