Das Paradies
konnte nicht glauben, dass sie diese sicher ein Meter tiefe Schlucht mit ihren Schaufeln gebuddelt hatten. »Wie unmöglich«, dachte ich und war ganz auf diesen Gedanken konzentriert, da rutschte ich mit dem Vorderrad |23| wie eine Klippe hinunter und stürzte mit dem Mountainbike einen Meter tief in die Schlucht. Ich war tot. Dachte ich. Tot mit einem roten Mountainbike – es war der schönste Tod meines Lebens. Als mich die drei Arbeiter aufhoben und ich die Augen öffnete, schaute ich in total entsetzte und besorgte Gesichter. »Sollen wir einen Arzt rufen?« – »Nein, nein, geht schon«, sagte ich und nahm mir vor, jeden Schmerzensschrei zu unterdrücken und jetzt wirklich sehr stark zu sein und bestimmt nicht zu weinen. Denn es war schon doof genug, mit einem Mountainbike hier reinzufallen, und das hatte wahrscheinlich ziemlich bescheuert ausgesehen. Und die dachten bestimmt: Typisch Mädchen, die flennt sicher gleich. Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und schob das Mountainbike hinter die nächste Kurve, wo ich unbedingt weinen musste, sonst wäre ich geplatzt.
Zu Hause war mein Vater schon lange krank. Erst bekam er Mumps, dann eine Lungenentzündung, dann eine Hirnhautentzündung, ein Nierenleiden und dann Depressionen. Er ließ sich von einer Rotlichtlampe bescheinen, während er mit dem neuen Videorekorder alle möglichen Filme aufnahm. Das Haus verließ er nicht mehr, las keine Zeitungen, schaute sich nur noch im Fernsehen Western an. Nachbarn, Lehrer oder Freunde wunderten sich später immer wieder, wenn ein Hinweis auf einen Vater auftauchte. Eine Lehrerin rief sogar bei uns an, um herauszufinden, ob die seltsam unleserliche Unterschrift unter der Vier in einem Deutschaufsatz nicht vielleicht doch von mir käme. Wenn das Telefon klingelte, erschraken alle und niemand ging ran, es sei denn, mein Vater erlaubte es. Das Telefon hatten wir vor ein paar Jahren bekommen. Nagelneu stand es da, mit einer tollen Nummer, die wir aber unter Androhung der für ein Kind |24| schlimmsten vorstellbaren Strafe nicht herausgeben durften, nämlich der, niemals nach Disneyland Paris fahren zu dürfen. Das Verbot hatte ich nach zwei Tagen vergessen und schrieb in der Grundschule die Nummer auf ein paar Zettel. Am gleichen Tag, nachmittags, klingelte das Telefon. Alle erschraken. Es klingelte zum zweiten Mal. Dann nahm mein Vater vorsichtig den Hörer vom Telefon.
»Ja, bitte? … Wer ist denn da? Wer? Nein, wir wollen an keinem Gewinnspiel teilnehmen. Um welches Gewinnspiel geht es denn? … Ein Auto und fünf weitere Hauptgewinne? Ein Auto haben wir schon. Woher haben Sie diese Nummer? … Eine computergenerierte Zufallsnummer? Wie soll das denn gehen? Mit einem Computer? Das haben Sie schon gesagt. Ach, das wissen Sie nicht? Und wo steht der Computer, der Zufallsnummern generiert? Das wissen Sie auch nicht. Löschen Sie die Zufallsnummern auch wieder? Von welcher Firma? Wie bitte?«
Am anderen Ende hatte man aufgelegt. Mein Vater schwitzte und zog das Telefonkabel aus der Wand. Weshalb der Anschluss für ein paar Wochen tot war. Später wählten meine Schwester und ich, wenn sonst niemand zu Hause war, Zufallsnummern und warteten, ob jemand abnehmen würde. Wir wählten Auslandszufallsnummern, hörten manchmal tatsächlich eine fremde Sprache und legten sofort wieder auf. Rückblickend sicher Unsinn, aber wie alle unsinnigen Ideen machte es Spaß. Wir bestellten später über dieses Telefon 50 Pizzas für die Nachbarn und warteten am Fenster, ob unsere Bestellung wirklich geliefert werden würde. Auch Taxis bestellten wir gern und häufig für Leute, die wir nicht mochten, was dazu führte, dass die Taxizentrale kein Auto mehr schicken wollte. Wobei natürlich hier niemand ernsthaft auf |25| die Idee gekommen wäre, ein Taxi zu bestellen, das war so abwegig wie Kaviar oder Cocktails oder echtes Leder.
Draußen roch es nach Weichspüler. Eine Frau aus unserem Block hängte Wäsche auf und redete mit einer anderen Frau, die weiße Unterhemden an die grünen Leinen klemmte. Sie lachten. »Na, wenigstens keine so harten Handtücher mehr wie früher, die musste man mit einer Säge von der Leine schneiden.« Es stank jetzt auch noch im Herbst nach Bergfrühling.
Ich habe das nie verstanden, wie man so naiv sein kann zu glauben, dass man glücklicher werden würde, nur weil es Weichspüler für alle gibt. Aber unser Bürgermeister wollte unserem Plattenbauviertel bald neuen Glanz verleihen. Das Viertel war ihm
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