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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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»Tschuldigung, mal Tasche auf, bitte.« Silvio. Silvio! Silvio war ein Angestellter meiner Mutter am Institut für Pflanzenforschung. Seine Aufgabe: Zahlen aufschreiben, Tabellen mit Stift und Lineal ziehen. Silvio hat Pickel, und Silvio rasiert sich seit einigen Monaten den Kopf. »Zum Dienst gemeldet für Deutschland, einig Vaterland«, so grüßt Silvio an der Bushaltestelle, wenn kein Erwachsener in der Nähe ist. Silvio mit den Schnürsenkeln. Weiß und rot. Silvio legt sehr viel Wert darauf, dass jeder die Botschaft seiner Schnürsenkel versteht. Es würde ja das beste Symbol keinen Sinn machen, wenn es niemand entschlüsselte, und deshalb hält er von Zeit zu Zeit Vorträge an der Bushaltestelle, was |13| rote und weiße Schnürsenkel bedeuten, die Zahlen 88 und 18, diese und jene Flagge, warum es Leute wie mich und meine Schwester früher nicht gegeben hätte und dass die Erfindung der Autobahn eine große Leistung sei. »Und warum ist das jetzt eine große Leistung, ich mein, auf die Idee hätt ich auch kommen können«, sagte mal meine Schwester zu Silvio und der sagte: »Willste eine auf’s Maul?«
    Und mehr wusste Silvio darüber eben auch nicht. Autobahn. Mehr fiel ihm und seinen Freunden dazu nicht ein. Silvio jedenfalls steht jetzt da, neben ihm ein älterer Mann mit Schnauzbart, der so aussieht wie ein richtiger Chef, der gar nichts sagen muss, der einfach streng guckt, mit grauen, sauber zurückgelegten Haaren, mit prüfenden Blicken auf Silvio, auf meine Mutter, auf mich. Als wäre das jetzt eine Vorführung und der Mann guckt, ob alle ihren Text können. »Silvio«, sagt meine Mutter. »Herr Brunner, ich bin jetzt hier Filialleiter.« In der Tasche ist natürlich nur die zerknüllte alte Pelikan-Pappe und ein Knopf und ein Schlüssel. »Na dann. Glück gehabt.«
     
    Am Morgen laufe ich schon in einem Indianerkostüm in die Schule, es ist das letzte Jahr in der Grundschule. Das Gymnasium ist auf der anderen Seite der Erdkugel, also irgendwo am anderen Ende der Stadt. Also das letzte Jahr in einer Schule, in die alle Kinder aus dem Plattenbauviertel gehen. Wo man im Februar Fasching feiert. Wo Hunderte Pfannkuchen verteilt werden. Wo ein Pfannkuchen mit Senf gefüllt wird. Etwa drei Viertel der Klasse im Indianer- oder Cowboykostüm kommen. Wir aus dem Viertel sind immer Indianer. Tagelang spult meine Mutter Winnetoufilme durch, drückt auf »Pause«, wenn Winnetou in der Nahaufnahme zu sehen |14| ist. Wir zeichnen und schneidern nach. Das Kostüm sieht aus wie das Original.
    Mir fiel auf, wie hässlich es hier war. Wo immer man hinsah, schauten die immer gleichen grauen Wände mit ihren rauen, unfreundlichen Fassaden zurück. Über mir ein großes Fenster mit aschgrauem Himmel. Die großen Risse in den Platten auf dem Gehweg versuchte ich zu umgehen, ging den einzig möglichen Weg, der aus der Siedlung hinausführt, einen schmalen Gang zwischen zwei Zäunen. Rechts die Klärgrube. Man gewöhnte sich mit den Jahren an den Geruch.
    Auf der einen Seite harkte ab und zu ein alter Mann, der nach einem Bahnhofswart aussah, mit flachem grauem Hut und grauem Mantel. Seine Harke, stellte ich mir vor, hätte auch eine Schranke sein können, die nur er, aus einem kleinen Grenzhäuschen heraus, heben und senken konnte.
    Etwa 7000 Menschen leben hier. Mindestens 15 Blöcke reihen sich aneinander. Der größte misst 50 Meter in der Länge, hat zwölf Etagen und wurde sofort nach 1989 hellblau angemalt. An den Ecken verschwimmt er an guten Tagen mit dem Himmel. An schlechten Tagen sieht das Haus wie eine Pappkulisse aus. Ich wohne in der Prager Straße Nummer 14, einem halbrunden Bau. Eingeweiht 1981. Die Leute rissen sich um eine Wohnung im Neubau. Neubau – das war nur ein anderes Wort für Freiheit, Unabhängigkeit und dichte Fenster. Ein Traum von Luxus und Moderne. Über 1,5 Millionen Träume von Luxus und Moderne hat man bauen lassen. Es heißt, hier habe die DDR ihr sozialistisches Großprojekt umgesetzt. Unsere Nachbarin sagte: »Eine dumme Idee in dummem Beton.« Mein Vater sagte: »Nach wie vor schimmelfrei.« Für mich sind diese Bauten |15| der Beweis, dass es das Land wirklich gegeben hat. Ein Beweis, den man nicht so einfach in den Müll werfen kann wie Schränke, Lampen, Fernseher, Blumentöpfe, Kaffeekannen, Trabis, Pullover, Matratzen, Gläser oder Kanarienvögel.
    Die Mülldeponie ist nicht weit von unserem Viertel entfernt, sie wuchs in den letzten Jahren zu einem großen Antiquitätenhaufen

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