Das Paradies
fortan die Blumenbeete. Es waren so viele ABM-Leute unterwegs, dass schon bald unser Viertel von Stiefmütterchen überwuchert war. Neben jedem Bordstein ein Blumenbeet, extrem gut gepflegt. Andere begannen zu saufen. Ich erinnere mich an Stefan Meyer, einen fetten Bauarbeiter, der mit drei Kindern – das vierte war noch nicht geboren – zwei Hauseingänge weiter wohnte, aber der wohnte da eigentlich kaum, sondern soff im Getränkemarkt und lag dann nachts vor unserer Tür, weil er glaubte, hier zu wohnen, was aber nicht der Fall war. Mein Vater half ihm die ersten Male nach Hause, er stützte ihn und schob und verschwand dabei beinahe in dem Fett des Mannes. Später öffnete er die Tür nicht mehr, sondern wartete, bis Stefan Meyer, der gerade unseren Absatz vollgekotzt hatte, die drei Etagen allein wieder nach unten und auf die Straße gekrochen war. Er vergaß nie, einmal noch ins Treppenhaus zu kotzen. Jemand hatte es am Morgen meist etwas lieblos aufgewischt. Und es roch dann nach einer Mischung aus Spülmittel und Kotze. Und manchmal lag Stefan Meyer noch am Morgen da, neben unseren kleinen Schuhen mit |21| den praktischen Klettverschlüssen, weil mit drei Kindern alles schnell gehen musste. Während wir uns dann leise die Schuhe anzogen, hob und senkte sich sein gewaltiger Bauch. Er sah sehr schlecht aus. In seiner Latzhose lag er da, im Gesicht so blass, mit verdrehtem, eingeknicktem Hals quer auf den kalten Stufen, die aussahen, als wollte jemand Dreck imitieren, aber unsere Nachbarin behauptete, man habe hier auf amüsante Weise Marmor imitieren wollen.
Wir wohnten im längsten Block, der das Viertel vom Feld trennte. Aus unserem Kinderzimmer konnten wir weit über diese Felder schauen und am Abend die Sonne hinter geduckten Hügeln untergehen sehen. Wir sahen, wie sich die Landstraße über die Erde legte, wie sie sich schlängelte, als habe sie es besonders eilig, davonzukommen. Wir dachten, wir könnten die Erdkrümmung erkennen. Stundenlang saßen meine Schwester und ich am Fenster, an unseren Kirschfurnierschreibtischen, und überlegten, an welchem Punkt es nach unten ging, wo die Welt wohl abknickte. Vom Küchenfenster aus, auf der anderen Seite der Wohnung, schauten wir auf den nächsten Block, ein Ausblick wie auf einen Adventskalender, nur für das ganze Jahr, und auf die Klärgrube. Daneben befanden sich eine schaukellose Schaukel und ein Sandkasten in L-Form. Er war ganz neu. Neues Land, neuer Sandkasten. Leider fehlte noch der Sand, und so gruben wir in schleimigem Torf herum. Besser als nichts. Vorher hatte an dieser Stelle nur ein alter Traktorreifen gelegen, in dessen Gummirundungen die Spinnen und Mäuse im Kreis rannten.
Die Leute im Viertel sind Klempner, Elektriker, Heizungswärter, Verkäufer, Kindergärtner und ein paar windige Typen, von denen niemand weiß, was sie tun. Eine Revolution gab |22| es hier nicht. Gründe gab es weder dafür noch dagegen. Man war hier tendenziell eher gegen alles. Einige behaupten, »die Schnauze voll« zu haben oder »nicht mehr durchzublicken«. Es war, als vibriere ein ständiges Murren durch die Wände.
Das habe ich auch nicht verstanden. Es war doch ganz einfach. Ich bekam doch ein neues Mountainbike und plötzlich die Aussicht, nach Disneyland zu kommen. Was war daran schlecht? Mauerfall war etwas Wunderbares, und ich war mir sicher, dass wunderbare Dinge geschehen würden. Es hatte gut begonnen, damit, dass unsere ziemlich reiche Tante Sibylle mir ein schönes rotes Mountainbike schenkte, mit dem ich tagelang durch das Viertel fuhr: zum Schaffner und durch die Kleingartensiedlung, an den riesigen Plattenhäusern entlang, vorbei an den Eingängen, die alle gleich aussahen, so dass ich manchmal im Fahren den Eindruck hatte, ich würde kein Stück vorwärtskommen, weil da schon wieder die gleiche Treppe, das gleiche Geländer, der gleiche Busch war. Dann fuhr ich mit dem Mountainbike aus dem Viertel heraus, man musste gut aufpassen, weil um uns herum alle Straßen aufgerissen wurden, die sich nun wie tiefe, sehr tiefe, ausgetrocknete Flussbetten durch die Landschaft fraßen. Mich hat das immer an Festungsgräben erinnert, und das fand ich toll, weil wir folglich sicher waren und beispielsweise keine Panzer oder so was angreifen konnten. Ich schlängelte mich auf einem schmalen Gehweg ganz nah an der Bauschlucht vorbei. Ich sah drei Arbeiter, die unten irgendwas mit Schaufeln machten, fragte mich, ob sie die Schlucht selbst gegraben hatten,
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