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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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verlassen und ihr Sohn Christian hatte es zu einem Neonazi gebracht, mit Springerstiefeln und gegelten Haaren. Fast jeder kannte die gelben Wände der Psychiatrie, weil jeder von einem Nachbarn oder einer Tante erzählen konnte, der oder die einmal eingewiesen worden war. Viele hatten selbstbemalte Seidentücher. Ein untrügliches Zeichen für einen längeren Aufenthalt. Seidentücher und Tontöpfe bemalte man bis Ende der Neunzigerjahre in Weimar ausschließlich in dieser psychiatrischen Tagesklinik. Erst später gab es auch außerhalb Bastelkurse und Filzkurse und Seidentüchermalkurse oder Zeichenstudienkurse oder Kunstkurse im Allgemeinen. Zum Beispiel in einer kleinen Kunstschule in der Stadtmitte, nicht weit vom Goethehaus entfernt, in einer sehr schmalen Gasse, in der man, wenn man die Arme ausbreitete, links und rechts gleichzeitig die Häuserwände berühren konnte. Dort, versprach die Schule, könne jeder, |65| aber auch wirklich jeder das Handwerk der Kunst erlernen. Ich habe die Kursteilnehmer nur einmal gesehen, weil ich als Aktmodell arbeitete. Ich war 14. Keine der Lehrerinnen hatte ein Problem damit. Es gab 50 Mark für eine Stunde. Es war ein klarer, kühler Abend, als mich mein Vater zu meinem ersten Nebenjob als Aktmodell fuhr. Er stellte nur eine Frage: »Wieso?«
    »Na, weil ich Geld brauche.«
    »Du solltest dir einen reichen Mann suchen. Oder eine reiche Frau. Egal. Vielleicht mehrere.«
    »Okay.«
    Ich musste lachen. An diesem Abend bildete sich ein Kreis von Menschen um mich herum, junge, alte, Frauen, Männer, auch zwei schätzungsweise 13-Jährige. In der Mitte lag ich ziemlich nackt. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Ich schwitzte sofort heftig. Es waren sicher 30 Grad in dem Raum. Es war schrecklich. Auch die Zeichnungen der Teilnehmer, ein fettes, mit Kohle flüchtig hingeworfenes Walross. Draußen war es dann sehr kalt, und weinend wartete ich auf jemanden, der mich abholen würde. Das Geld war mir scheißegal. Ich machte das nicht wieder, worauf mein Vater sagte: »Gut so. Such dir jemanden.« Ich hätte doch halbwegs Glück mit den Genen, sagte er, da müsste ich nichts weiter tun, als die Hand aufzuhalten, um vom Leben beschenkt zu werden.
    Meine Eltern habe ich als extrem tolerant in Erinnerung. Jedenfalls, wenn es um Regeln ging, die sie nicht selbst aufgestellt hatten. Seitdem ostdeutschen Eltern unterstellt wurde, sie schadeten ihren Kindern, weil diese im Kindergarten mit anderen zusammen aufs Klo gingen und dadurch – so eine tatsächlich diskutierte Fernsehthese eines Professors oder |66| so – aus unschuldigen Kindern aggressive Neonazis wurden, seit diesen Fata-Morgana-Theorien haben sich meine Eltern wohl entschieden, grundsätzlich das Gegenteil von dem zu tun, was gerade offiziell befohlen wurde. Sie machten ihre eigenen Gesetze. Gesetze ohne Ideologie.
    Meine Mutter schenkte mir zu meinem siebten Geburtstag einen Fußball. Zu meinem 13 Geburtstag eine Technokassette. Ausgehen durfte ich, seit ich 14 war, so lange ich wollte. Ich hatte das Gefühl, nicht nur die Währung hatte sich geändert, die Jobs, die Steuern, die Zukunft und die Vergangenheit müssten nun ganz anders betrachtet werden. Mir kam es eben auch so vor, als habe man die Vorstellung von Kindererziehung komplett über den Haufen geworfen. Ich glaube, bei uns gab es fast keine Regeln. Jedenfalls später nicht. Es gab nur Unsicherheit und Schuld.
     
    Die Einheit war für uns lange ein Raubzug, ein Kahlschlag, eine Zerstörung, eine Brandrodung. Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, mussten wir nur heranwachsen und uns umschauen.
     
    Als 1990 die ersten Wahlen stattfanden, gingen meine Eltern wie immer früh aus der Wohnung. Bis heute werden Wahlgänge noch sehr zeitig erledigt, das wäre der Untergang einer Demokratie, sagt meine Mutter, wenn man erst schönes Wetter abwarten würde, um zur Wahl zu gehen. In der nahen Grundschule, dort, wo die ersten freien Wahlen in unserer Siedlung stattfanden, wurden auch die ersten Wahlkabinen aufgebaut. Meine Eltern standen mit den anderen Leuten aus unserer Plattenbausiedlung etwas ratlos herum. Die Wahlleiterin winkte sie heran. »Da müsst ihr rein.« |67| Mein Vater kam mit seinem sauberen Wahlzettel wieder heraus und sagte der verwirrten Wahlleiterin, dass er sich nicht imstande sehe, in eines der vorgedruckten Kästchen ein Kreuz zu zeichnen. Er verstehe das nicht. Und: Wer solle hier wen wählen? Er habe sich für das hier nicht entschieden, die Einheit

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