Das Paradies
Euphorie sind Bilder der anderen. Gerade hatte mein Vater irgendwo auf dem Land ein Agrarinstitut aufgebaut, gerade müssen sie die Felder umgegraben haben, sie für den Winter und das nächste Frühjahr vorbereitet und den Sommer ausgewertet haben. Kleine, gesunde Zöglinge werden sie im Gewächshaus herangezogen haben, damit die gerade und stark in den nächsten sozialistischen Frühling wuchsen. In unserem Plattenbauviertel säuselte gerade noch der Wind. Ein paar DDR-Fahnen klimperten vor den Fenstern. Der Geist, der diesen Ort bewohnte, war sehr unfreundlich. |57| In der Mitte der Plattenbausiedlung stand eine Klärgrube, daneben eine schaukellose Kinderschaukel und ein Sandkasten. Von unserer Wohnung in der dritten Etage konnte man auf die gerissenen großen Platten der Klärgrube schauen. Es roch immerzu nach Jauche. Es war wenig abwechslungsreich.
Die Platten wirkten, obwohl nichts zerstört war, wie Ruinen. Und man hatte manchmal das Gefühl, in Ruinen zu leben – in Ruinen, deren eigentliche Epoche mir fremd war. Die Nationalhymne der DDR kenne ich nicht, sie hat etwas mit Ruinen zu tun. Ich könnte sie googeln. So sehr interessiert sie mich aber doch nicht. Ich bin mir sicher: Sie verspricht eine bessere Welt. Sie interessiert mich noch weniger. Ich puste höchstens den Staub von den Fotografien. Auf denen sehe ich: eine andere Welt.
In der Plattenbausiedlung gab es auch einen Kindergarten. Den verließ ich 1990. Wir waren der letzte Jahrgang. Danach wurden keine Kinder mehr geboren. Das Bild junger Familien ist ein Bild der Vergangenheit. Keine junge Familie wollte mehr in der Platte wohnen. In der Platte wohnten ab sofort nur noch Assis. So hieß es jedenfalls. Wenn die Sonne unterging und das Orange sich in den vielen Fenstern eines großen Blocks spiegelte, saßen Lucian und ich manchmal noch neben der Klärgrube auf einem großen Traktorreifen, der »Sandkasten« genannt wurde, obwohl gar kein Sand, sondern nur Torf und kalte Erde darin waren. Von dort aus blendete uns das gespiegelte Sonnenlicht, und Lucian sagte: »Die Platte ist ein großer Weihnachtskalender.«
In unserem Weihnachtskalender gab es bald keine kleinen Kinder mehr. Und der Kindergarten wurde geschlossen. Wir schmissen die Scheiben ein.
|58| Drinnen akkurat an der Wand in einer Reihe angelehnt: Plüschtiere. Kaputte, staubige Bretter, bei denen man sich fragte, wann die so kaputt hatten gehen können.
Aus dem Kindergarten wurde ein Jugendzimmer. Das Jugendzimmer wurde sofort von Neonazis besetzt. Es gab viele Neonazis, die nur aussahen wie Neonazis, die das als Moderichtung begriffen, und es gab die Neonazis in unserem Viertel, die sich vor allem gegenseitig den Schädel einschlugen. Jedenfalls solange es noch keine Ausländer gab.
Es kämpften dann Neonazis mit weißen Schnürsenkeln gegen Neonazis mit roten Schnürsenkeln und man wusste nicht, wohin man sich retten sollte. Im Jugendzimmer saßen die Glatzen, und sie wurden von draußen von anderen Glatzen mit Steinen und Knüppeln beschmissen. Am Abend ließ man Metalljalousien herunter. Ich habe gedacht, dass die schon verdammt dämlich sein müssen, so wie die sich gegenseitig jagen. Man lief am besten einen großen Umweg.
Später, nachdem mein Vater den Globus zertrampelt und angezündet hatte, ging er aus dem Zimmer und hinein in ein langes Schweigen. Er hatte keine Lust mehr, mit irgendjemandem in Verbindung zu treten. Auch sonst wurde es still um uns herum, die einzigen Akademiker in der großen Siedlung. Der Alkoholkonsum stieg gewaltig. Nicht selten lag ein Nachbar morgens im Treppenhaus und suchte vollkommen blau seine Wohnung. Das war das Phänomen, das ich in dieser Zeit beobachten konnte. Vorher betrank sich zwar auch jeder, allerdings wurden dafür Anlässe erfunden, die man zusammen und mit großem Lärm feiern konnte. Jetzt standen die Nachbarn am Tag am Straßenrand und pflegten die neu angelegten Stiefmütterchenbeete und |59| wollten nicht gegrüßt werden. Die Abkürzung ABM war zutraulich in Umlauf. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ich glaubte damals, jemand hätte die Menschen beraubt, ihnen etwas, von dem ich nicht wusste, was es sein könnte, weggenommen. Ich hatte das Gefühl, wieder Gerechtigkeit in die Welt bringen zu müssen, und wurde etwas voreilig mit fünf Jahren Kommunistin. Die Kenntnisse hatte ich mir auf der Straße angeeignet.
Draußen explodierten jedenfalls ekstatische Freudenfeuerwerke, und drinnen sah ich meinen Vater nur noch durch
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