Das Paradies
das Aquarium, das im Wohnzimmer den Esstisch vom Sofa trennte. Am Kopf meines Vaters schwammen extrem kleine und stumme Fische vorbei, und wir tranken Pfefferminztee vom Vortag. Es gab bei uns keine Zeitungen, und unsere erste Telefonnummer durfte nicht weitergegeben werden. Mein Vater hatte offenbar Angst, man könne ihm wegen irgendetwas, wegen eines Geheimnisses, so glaubte ich, zu Leibe rücken. Und mein Vater verließ das Haus nur noch, um zur Arbeit zu gehen. Selbstverständlich gab es kein Institut mehr. Er war jetzt Angestellter in einem Amt der BRD. Sonst veränderte sich wenig: Es gab keine neuen Möbel oder neue Kleidung, keine Auslandsreisen außer nach Bayern, sie kauften nur einen Videorekorder. Draußen erkannten wir die deutsche Einheit an den neuen Stiefmütterchenbeeten, die von ABM-Kräften angelegt und gut gepflegt wurden. Wir erkannten die deutsche Einheit an neuen Bürgersteigen. Wir erkannten die deutsche Einheit an einer Zeitungskiste, in der jeden Morgen ein Stapel mit
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Zeitungen lag. Das Zeitungsprinzip basierte auf einem mir völlig unverständlichen Vertrauen darauf, dass, wer sich eine Zeitung herausnimmt, freiwillig Münzen in den an einen Mast angeschraubten |60| Kasten wirft. Jeder las die
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Zeitung, aber niemand warf eine Münze in den Kasten. Nach drei Wochen wurden die Zeitungen und der Münzkasten entfernt.
Draußen flogen die Fetzen der
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Zeitung herum und drinnen lief der neue Videorekorder. Wenn mein Vater vor dem Fernseher saß, auf der einen Seite vom Aquarium, und wir auf der anderen Seite saßen, konnte ich sein Gesicht durch das Aquarium grün und verschwommen sehen. Er guckte auf den Fernsehschirm. Dort liefen selten Nachrichten oder das Abendprogramm, sondern immer alte vergnügliche Filme auf Video: Italowestern, DEFA-Filme, Komödien mit Manfred Krug und Liselotte Pulver. Um die 400 Filme hat er in den nächsten Jahren aufgenommen und seine Kassetten Hunderte Male abgespielt. Den
Tiger von Eschnapur
und
Spiel mir das Lied vom Tod
genauso wie
Das Wirtshaus im Spessart
und alle russischen Märchenfilme. Er hat alle Filme notiert, auf der Schreibmaschine und später am Computer lange Listen der Videokassetten-Datenerfassung erstellt: Name, Genre, Spieldauer, Erscheinungsjahr und Zeit der Aufnahme sowie Kassettennummer und eventuell nötige Bemerkungen (DEFA, Hitchcock, Deneuve).
Ich kann mich nicht an die DDR-Hymne erinnern. Ich erinnere mich stattdessen an die Eröffnung von Disneyland Paris. Es war 1992, und jemand hatte Geburtstag, so dass die erweiterte Familie, einschließlich verschiedener Großtanten und Großonkel, an unserem ausziehbaren Esstisch saß. Das Wohnzimmer war voller Menschen, Stühle, kalter Wurst- und Käseplatten. Meine Oma, Tante, Großtante, Großoma verlangten nach Eierlikör. Sie tranken selten. Wenn sie tranken, dann Eierlikör in einer Waffel, die innen mit dunkler Schokolade überzogen war. Als Kinder waren |61| wir sehr scharf auf diese Waffeln und aßen die Reste auf. Die, an denen dann noch etwas Eierlikör klebte. Wir saßen unter dem Tisch und fühlten langsam etwas Dösiges im Kopf. An diesem Abend schauten wir alle nach Disneyland. Es gab ein großes Feuerwerk und das Dornröschenschloss wurde angestrahlt. Es ist das Traumbild meiner Kindheit. Viele Jahre dachte ich, das wäre der Mauerfall gewesen. Es waren ja auch damals Feuerwerke gezündet worden, sagten die anderen.
Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Zeit nach dem Fall der Mauer eine Erfahrung der Trauer und des Schweigens war.
Für mich ist die DDR so weit weg wie das Inkareich Tawantinsuyu. Wobei ich darüber noch etwas mehr weiß, dank einer völlig gegenwartsfremden ostdeutschen Dorfschule, wo bis zu meinem Abitur 2003 niemals etwas über die DDR erzählt wurde. An eines erinnere ich mich allerdings schon. Es war im Geschichtsunterricht. Nationalsozialismus.
Lehrer: »Es wäre eine Möglichkeit gewesen, 1933 nicht Hitler an die Macht kommen zu lassen, sondern die Kommunisten. Stalin war immer noch besser als Hitler.«
Ansonsten wurde um das Thema herumgetänzelt wie um einen Maibaum. Einmal fragte ein Mitschüler nach dem Unterricht die Deutschlehrerin, wie sich das im Osten damals mit den Lehrern verhalten habe. Ihre Antwort: »Das geht dich, glaube ich, nichts an.« Möglich. Wir haben also nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung. Erich Honecker ist für mich eher eine Karikatur. Mielke kenne ich nur dem Namen nach, weil sich
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