Das Paradies
Stadtrand, an die Trabanten, |70| die das Stadtzentrum umkreisen. Oder noch besser: Werfen Sie einen Blick in die Dörfer. Fragen Sie mal junge Ostdeutsche, was sie von der DDR halten. Sie werden Ihnen dies sagen: »Es war nicht alles schlecht damals, schätze ich.« Dieses »schätze ich«, »glaube ich« oder »denke ich« bezieht sich dabei auf die Erkenntnis, nicht selbst am Ort gewesen zu sein. Nicht einmal diese Grundhaltung wird aber dazu führen, dass sie wenigstens gegen das »neue« System, den Kapitalismus, mit all seinen Drohungen und Zwängen, aufbegehren – das nur nebenbei bemerkt. Aber für unsere Eltern sind wir dennoch der moralische Vorwurf. Mit jeder Frage, die wir ihnen stellen, drücken wir unser ganzes Unverständnis für ihre Vergangenheit aus.
Aber noch bleibt die Vergangenheit sicher begraben. Sie wurde gut wegretuschiert und übermalt, restauriert. Wer heute durch ostdeutsche Städte spaziert, den muss es befremden, wie hübsch sauber und bunt doch dieses Ostdeutschland ist. Grau? Welches Grau? Die Häuser sind doch pastellrosa – ohnehin eine schlimme Farbe, die nur wenigen, vor allem aber keinem Haus steht – oder pastellgrün. Auf vergoldete Renaissancetürmchen fällt nur der Schatten der Kastanien, die Häuser gewöhnen sich an Pfennigfuchser, Wochenendshopping, Tequila Sunrise. Selbst aus den Plattenbausiedlungen sind die Graustufen herausgesogen. Das Schweigen unserer Eltern findet also auch im Stadtbild einen Komplizen. Ich schaue die orangefarbene Plastikteekanne auf unserem runden Esstisch an. Ich sehe die Farben der DDR, die diese Hoffnung ausdrücken, den Glauben an eine bessere Zukunft. Ich bin Teil einer Generation, die jede Utopie verloren hat, und ich schaue mit einem sentimentalen Blick auf eine Zeit, die immerhin eine Idee hatte: die Idee vom besseren Menschen.
|71| Ich möchte keinen Sitzkreis mit Ostdeutschen abhalten, erstens. Keinen Parteitag der Gefühle und Erinnerungen. Und zweitens: Die Freude über dieses Deutschland wächst nicht, wenn man uns mit vielen euphorischen Bildern aus dem Fernsehen dazu nötigt. Sie decken sich nicht mit der Realität. Diese Bilder sind nur der Ersatz für die fehlende Erinnerung, für eine fehlende Sprache. Sie sind Trugbilder, ein Schein, die Halluzination eines Happy End. Sie sind die unangemessene, falsche Fährte. Denn für die DDR haben wir noch keine Sprache, keine Begriffe gefunden.
Ich werde oft gefragt, ob sich diese Generation mit der 68er- Jugend vergleichen lasse, die ihrerseits von den Eltern forderte, mit der Nazivergangenheit aufzuräumen. Ob wir ähnliche Forderungen formulieren könnten oder sollten, werde ich gefragt, ob das Schweigen über die DDR vergleichbar sei mit dem Schweigen über die Nazivergangenheit. Nichts läge weiter auseinander als diese beiden Beispiele aus der deutschen Geschichte. Es ist vielmehr ein vulgärer Gedanke. Nicht nur für Ostdeutsche. Auch für das unendliche Leid der im Nationalsozialismus verfolgten Juden, Kommunisten, Kritiker oder der zum Tod verurteilten Schwachen. Kein Ostdeutscher hat überdies seinen Nachbarn per Denunziation in den Tod geschickt. Der Staat ist in der DDR kein Verführer gewesen, der die Massen blendete, und kein Ostdeutscher behauptet im Nachhinein, er sei geblendet worden von einer dämonischen Ideologie. Man macht es sich zu einfach. Das Dritte Reich ist kein System gewesen. Es dauerte 12 Jahre. Die DDR 40. Einer der Hauptunterschiede ist auch: Das Dritte Reich war schrecklich, dem normalen Durchschnittsdeutschen ging es jedoch sehr gut. In der DDR haben alle |72| unter dem gleichen Mangel gelitten. Das Dritte Reich ist eine improvisierte Herrschaft des banal Schrecklichen.
Eine Parallele zum Dritten Reich gibt es: und zwar, wie man mit der Geschichte im Nachhinein umgeht. Wie in Ostdeutschland mit der Stasi umgegangen wird, das hat große Ähnlichkeiten mit den Reaktionären in der BRD der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Wahrheit und Verbrechen werden verschwiegen, klein gemacht, ihre Verfolgung bestraft.
Das heißt: Wir stellen keine Schuldfrage. Das Phänomen aber, in einer Diktatur zu leben und sich offenbar darin wohl zu fühlen und dabei auch das Leid von Gegnern oder Kritikern so weit auszublenden – das möchte ich nicht nur aus einem Geschichtsbuch erfahren.
Und wenn wir auch keine Schuldfrage stellen, dürfte uns mit den 68ern immerhin eines verbinden: Die Lebensrealität der Eltern ist eine ganz andere, weil sich die
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