Das Paradies
Gesellschaft ruckartig verändert, ein System das andere abgelöst hat. Und das Schweigen darüber ist dann vor allem eine hohe und dicke Mauer, die uns von unseren Eltern trennt.
|73| 4. Drogen
Wenn die Schulsekretärin sich mit »Viel Spaß« verabschiedet, bevor sie die Tür zumacht, ist das immer ironisch gemeint. Nachmittags um vier sitzen wir in einem Raum, gehen zum Fenster, öffnen es und machen es wieder zu, laufen hin und her. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, an der eine vergilbte Spitzengardine klebt. Sie klebt da, seit ich diesen Raum kenne, seit vielen Jahren. So riecht sie auch. Die Fensterscheibe ist kalt, und ich müsste mir mal die Nägel schneiden. Es ist der Raum für Schüler, die nachsitzen müssen oder richtig was falsch gemacht haben und jetzt auf die Polizei warten. Wie wir.
David sagt: »Wir müssen was tun, was legaler ist.«
Ich kann nicht denken, weil mich der Joint völlig umgehauen hat und wir deshalb ja hier sitzen, weil ich im Englischunterricht gar nichts mehr verstanden habe. Nicht mal: »Andrea, how are you?« Woraufhin ich nur gesagt habe: »No, not now.« Und über das Buch, das ich an einer beliebigen Stelle geöffnet hatte, so dass es wenigstens so aussah, als würde ich wissen, was es in einer normalen Unterrichtsstunde zu tun gab, also hinsetzen, Buch auspacken, Buch aufklappen, irgendwas unterstreichen, Krikelkrakel an der Seite machen, irgendwas machen, um den Kopf nicht zu heben, |74| was alles nicht lange klappte, weil mir auf die Frage »How are you?« sehr schlecht wurde und ich es beim Hinausgehen nur bis zum Mülleimer schaffte, was mehrere Mülleimer waren, weil die Schule umweltfreundlich sein wollte, an einem Beste-Umwelt-Schule-Wettbewerb teilnahm und den Müll seit einigen Monaten trennte. Ich zögerte kurz, ob ich jetzt in den grünen (Kompost) oder in den weißen (Restmüll) Mülleimer kotzen sollte oder mir nur Mühe geben sollte, nicht auf das Linoleum zu kotzen, denn das war dann schwerer zu reinigen. Ich übergab mich also ungeschickt in den Wertstoffmülleimer (gelb), und Frau Rennethal schickte mich sofort ins Sekretariat. Dort traf ich David, bei dem es ähnlich gelaufen sein musste. Er sah sehr blass aus, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wir hatten in der großen Pause Gras geraucht, neues Gras, wohl sehr gutes Gras, das einer aus der Oberstufe mitgebracht hatte, denn er hatte zu Hause im Garten eine riesige Pflanze herangezüchtet, die jetzt Blüten trieb, die musste man wohl ernten, und mit dieser Ernte lief er dann in der Schule herum und verteilte sie zu wirklich fairen Preisen. Auf jeden Fall rauchte ich zu viel davon, weil ich den Joint rollen sollte, was ich nicht konnte, weshalb so eine Art Rakete herauskam, dick und schwer, nur mit Marihuana gefüllt.
Während wir in der Bibliothek warten, in der ein Regal steht mit etwa zwölf Büchern, kauen wir an den Fingernägeln. Der Raum ist fast leer. Außer dem Regal ein grauer Tisch, der an den Seiten angeknabbert ist, so dass das Sperrholz herausquillt, drei Stühle, mit rotem Frotteebezug beklebt, und ein Sofa mit dem gleichen roten Frotteebezug. An den Fenstern hängen vergilbte Spitzengardinen. Es stinkt, als hätte man seit 1985 das Fenster nicht geöffnet. David blättert in den Büchern, |75| die alle ziemlich alt aussehen. Ich nehme ein Sozialkundebuch aus dem Regal, grau wie ein Grabstein, von 1989, printed in Germany. Ich schätze, damit ist nicht die DDR gemeint. »Die klassenlose Gesellschaft bei Karl Marx (1818–1883)« ist mit »Exkurs« überschrieben. Machiavelli und Rousseau sind rot unterstrichen. »Das muss man sich mal reintun«, sagt David, der in den letzten Monaten nicht nur das richtige Jointbauen erlernt, sondern sich auch zur Frankfurter Schule einiges angelesen hat, woraufhin die Eltern Sorge hatten, er sei einer Sekte beigetreten. Frankfurter Schule und Zeugen Jehovas – fremd, also gefährlich, dachten wir dann auch, und das hatte immerhin den Vorteil, dass wir schließlich an gar keine Götter glaubten, weil keiner ganz sauber schien, nicht einmal Adorno. »Das muss man sich mal reintun«, sagt David also und blättert, »dass unsere Eltern wahrscheinlich nichts von Aristoteles und Locke gewusst haben.«
»Klar haben sie davon gewusst. Die sind ja nicht blöd.«
»
Vom Schutz freier Individuen durch den Staat
. Locke. Was sagt man im Sozialismus dazu?«
»Wahrscheinlich das Gleiche.«
»Schade eigentlich, dass man gar nicht weiß, was Marx eigentlich
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