Das Paradies
Gleichgewicht halten. Verwarnungen aussprechen. Kulanz zeigen. Formulare ausfüllen. Er ist lange still, er schreibt irgendwas in ein Formular hinein, guckt mich an, als würde er sich wundern, dass ich noch da sitze, und klappt die Mappe mit den Formularen zu.
Bevor ich fragen kann, ob ich ins Gefängnis muss, lässt man meine Mutter rein. Handschlag mit dem Polizisten, ein Wie-geht’s-denn-so-Gespräch über die Kinder und die neue Garage. Er sagt, dass der Staat überall hineinfunke und zu viel Staat schlecht sei und dass es allen eigentlich ganz gut gehe. Dann sagt meine Mutter, dass von ihr aus seine Garage ruhig ein Stück höher sein darf als die erlaubten drei Meter, das werden die Nachbarn sowieso nicht merken, und sie werde ganz bestimmt nicht mit dem Zollstock nachmessen. Die beiden verstehen sich prima. Mir fällt ein, dass meine Mutter wieder einen Job hat, nämlich im Bauamt. »Na, dann woll’n wir mal nicht so streng sein.« Der Polizist nickt mir zu und lächelt und muss davon dann husten. Meine Mutter sagt, dass wir jetzt mal nach Hause fahren. »Machste nicht noch mal!«, sagt der Polizist. Seine zufriedenen Blicke verfolgen uns, bis wir die Tür hinter uns zumachen. Unterwegs halten wir an unserer Stammfiliale vom Lidl, da wissen wir genau, wo die Marmeladen stehen und wo das Klopapier, es hat etwas sehr Friedliches, jetzt erst einmal in unserem Lidl |79| einzukaufen für das Wochenende. Dann fragt sie mich, was ich eigentlich genommen hätte heute in der Schule und ob ich total bescheuert sei. Das sagt sie so freundlich, dass ich ihr zustimme und verspreche, nur noch in absolut angemessenen Momenten Gras zu rauchen. Und als ich »Gras, also Marihuana« antworte, ist das Gespräch auch schon beendet. Sie hat auch später niemals danach gefragt, und ich bin ihr dafür sehr dankbar.
Stattdessen kaufte sie drei Bücher: eines, das die Hauptdrogen wie Ecstasy, LSD, Heroin, Marihuana und Kokain mit vielen Bildern und knappen Zusammenfassungen erklärte, ein textlastigeres Sachbuch eines Arztes und
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Das bekam ich zu Weihnachten. Meine Mutter widmete sich dem Thema mit einer fast schon wissenschaftlichen Genauigkeit. Wochenlang waren die Drogenbücher ihre Bettlektüre, während mein Vater mit Wertpapier-Ratgebern ins Bett ging und später Aktien kaufte. Als ich ihn fragte, warum er das liest, wo er doch nicht einmal wählen geht, sagte er: »Man muss das System kennen, wenn man es ausnutzen will.« Das Wirtschaftssystem erschloss sich meinem Vater genau und umfassend, indem er alles darüber las.
Wann immer ihnen etwas Rätsel aufgab, bearbeiteten sie es ganz wissenschaftlich, ganz genau. Ich habe das erst nicht verstanden.
Aber jetzt muss man sich daran gewöhnen, dass ihr Land eine Erfindung war, vom Namen dieses Landes angefangen bis zu den Wahlergebnissen. Und ihre klugscheißenden Kinder fragen auch noch, wie sie an den Unsinn nur glauben konnten. Und halten Eltern, Lehrer und Polizisten für die Oberdeppen. Es war die Atmosphäre eines ich nenne es mal umfassenden Autoritätsverfalls.
|80| Als Touristen sie einmal fragten, ob sie wirklich gehungert hätten und ob man Weihnachten gefeiert habe, war das nett gemeint, war aber eigentlich das pure Gegenteil, eine Verweigerung von Anerkennung. Bei der Verweigerung von Anerkennung geht es ja nicht darum, jemanden wütend zu machen, sondern es geht darum, ein Gefühl der Scham auszulösen.
Die Scham zu überwinden hieß, keine Fehler zu machen, über alles genau Bescheid zu wissen, das Bett sauber zu halten und aufzuschütteln, die Koffer korrekt zu packen, nichts zu vergessen, sich nicht zu verfahren, kein Geld an der Börse zu verlieren. Meine Analyse.
Die Schulbibliothek wurde ebenfalls mit drei Exemplaren des, wie ich finde, Drogeneinstiegsratgebers von Christiane F. aufgefüllt. Das Buch war der erste Preis für die Gewinner der Matheolympiade, des Schachwettbewerbs und des Sportfests. Keine Ahnung, warum Eltern und Lehrer Bücher an ihre Kinder verschenken, die sie selbst nicht gelesen haben.
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
jedenfalls war extrem lehrreich für uns und hatte auch Auswirkungen auf unseren Drogenkonsum.
Wenn ich mich mit Freunden unterhalte, deren Eltern in Westdeutschland leben, erzählen sie mir, dass sie schon beim leisesten Hauch des Geruchs von Alkohol Hausarrest bekommen haben. Ich bekam Bücher, als die Polizei wegen eines Joints in die Schule kam.
Es bricht allerdings eine allgemeine Panik
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