Das Paradies
unter den Lehrern aus. In der Lokalzeitung heißt es bald »Razzia in Drogenschule«, und unser Direktor beruft eine Sonderkommission zur Bekämpfung illegaler Substanzen an der Schule ein und grüßt uns nicht mehr. Vorträge zum Thema Drogen werden |81| gehalten. Eine Drogenbeauftragte bringt in einem kleinen Aktenkoffer etwas mit, das wohl wie Heroin oder Kokain aussehen soll, um uns zu zeigen, wie der »Tod auf Raten« aussieht. Viele Fragen werden gestellt. Wie man aus dem Pulver eigentlich flüssiges Heroin mache und wie »Drogensüchtige« Kokain klein machten. Die Frau bekommt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Dann zeigt sie ein Bild mit der Nase eines Kokainsüchtigen. Er hat davon eine sehr unreine Haut bekommen. Ehrlich gesagt lernen wir von keinem Dealer so viel wie von der engagierten Drogenbeauftragten Frau Zöllner. Obwohl Sachsen ein Jahr zuvor, also 1998, drei Drogentote verzeichnete, Thüringen vier, Sachsen-Anhalt zwei, Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls zwei und Brandenburg sechs, wobei drei an einer Überdosis starben und drei bei Unfällen im Rausch.
Auf jeden Fall sind die letzten zwei Jahre in der Schule für uns sehr angenehm und leicht. Die Lehrer behandeln uns wie arme, drogensüchtige Verlierer und fragen uns, schon aus Angst, uns würde Schaum vor die Münder treten, im Unterricht nichts mehr, und auch, wenn wir die Einzigen sind, die sich melden, sagt Frau Rennethal oder auch Stubendorff: »Schade, es weiß offensichtlich niemand die Antwort.« Wir stehen praktisch kurz vor dem goldenen Schuss.
Dabei haben die meisten sich mit Bier, Korn und Grüner Wiese, einem Cocktail aus blauem Likör und Orangensaft, abgeschossen, praktisch bei jeder Party ist mindestens einer mit dem Krankenwagen abgeholt worden, wegen einer Alkoholvergiftung. Ohne Alkoholvergiftung war man wie die Eltern ohne Stasiakte, also praktisch ohne Frisur. Und dann kam ein gewisses Ecstasy.
|82| Die
Bravo
brachte eine Aufklärungsgeschichte mit einem Jungen, der Ecstasy nahm, weil er sich für einen Pickel schämte, und zeigte eine Tortengrafik. Ich erinnere mich nur an den kleinsten Anteil in der Pille, die zehn Prozent »Dreck«. Die Epoche der Großraumdiskos, allgemein Disse genannt, begann. Mit HipHop, Soul und ganz kleinem Technokeller. Die Dorfjugend, die sich zu fünft in kleine Corsas quetschte, frequentierte meist den Neue-Deutsche-Welle-Room, wo Hits aus den Achtzigern gespielt wurden, während die zum Fahren Verdammten an der Bar standen und Multivitaminsaft tranken, bis sie so genervt waren, dass sie doch zwei oder drei Bier tankten. Die Kreuze auf den Landstraßen an den alten Kastanien wurden immer mehr, weshalb ein lokaler Politiker behauptete, die Kastanien seien an den Unfällen schuld, und forderte, sie alle abzuholzen.
Es gab im Osten zwei Möglichkeiten, die Pubertät zu überstehen. Entweder man wurde ein Vollidiot, der alles Geld für die Bassrolle im Auto oder bei Pimkie ausgab, oder man wurde ein Vollidiot, den niemand fragte, ob er zu Pimkie oder in eine Großraumdisse mitkommen wolle. Ich gehörte zur zweiten Gruppe der Vollidioten.
Deshalb mussten wir uns mit Gras zufriedenstellen und versuchten, uns auf diese Weise sehr besonders zu fühlen, hörten Janis Joplin und Velvet Underground und haben das toll gefunden, dass man so fertig sein kann und trotzdem die Welt verändern. Und wenn man die Welt nicht verändert, bleibt einem immer noch Janis Joplin.
Gab es denn sonst Helden? Auf dem Dachboden kramte ich nur einmal etwas hervor: eine alte Kunstledertasche meines Vaters und eine graue Fellmütze, auf der vorne ein kleines |83| Loch im Fell war, da war etwas abgerissen worden. Ich war begeistert von dem Retrolook und setzte die Mütze gleich auf. Mein Sozialkundelehrer Uwe Steiger, der sich in der DDR von Schule zu Schule gehievt hatte, zwischenzeitlich sogar suspendiert worden war, weil er ein Systemkritiker war, hob die Brauen, als hätte ich ein Robbenbabyfell auf dem Kopf. Und als ich in seinem Unterricht auch noch von unterschiedlichen »Klassen« sprach und einer ungerechten Gesellschaft, was ich bei meinem Vater aufgeschnappt hatte, war klar, dass es sich bei mir nur um das Kind einer weitverzweigten Stasidynastie handeln konnte. Er behielt mich nach der Stunde da und fragte mich, ob ich »Sorgen« hätte.
Der Stubendorff, der in Geschichte immer mal wieder von Stalin als großem Staatsmann spricht, aber Napoleon für einen unsachlichen Eroberer hält (ich bewundere Napoleon,
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