Das Paradies
das in einem von der Gesellschaft geschaffenen Rahmen ausleben können und natürlich auch sollen und dass wir, wenn wir Lust hätten, eine Ausstellung zum Thema machen |89| könnten. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: in einem Land zu leben, in dem meine Meinung verboten ist, oder in einem Land, in dem eine eigene Meinung total egal ist. Ich habe das Gefühl, die Pilze wirken.
Es dämmert, im Ilmpark hängt nur eine Gruppe Jugendlicher ab, die meisten mit Dreadlocks, zwei Touristen laufen vorbei und fotografieren sie. Alles wie immer. Kein Goa-Gelage. Ich beobachte einen kleinen Yorkshireterrier, wie er knapp vor der weißgestrichenen Gartentür des Superdichters eine Wurst hinsetzt. Genau genommen hat der Hund direkt in ein UNESCO-Weltkulturerbe geschissen. Er kackt ganz nah am Bein einer Frau mit lila Haaren, so dass ich denke, dass sie bestimmt gleich reintritt, was sie dann auch tut, weil sie sich auf das Wühlen in ihrer Handtasche konzentriert hat und nicht gesehen hat, dass ihr Hund genau neben ihre Füße kackt. Sie zieht an der Leine und sagt: »Pfiffi, tse tse tse«, nimmt dann eine Tüte aus ihrer Tasche, und ich denke noch: »Hilfe, ist die ordentlich«, da packt sie den Haufen mit der Tüte an und wirft sie über die Hecke in den Goethe-Garten. Sie sieht, dass wir sie gesehen haben, und läuft weiter.
Wir steigen auf einen orangefarbenen Streukasten und von da über den Zaun in den Garten von Goethe. »Wird ihn wohl nicht mehr stören«, sagt David.
Es ist gar nicht schwer, sich das Museumshafte wegzudenken. Ich habe versucht, mir die Unordnung vorzustellen, die Goethes Gartenhaus erst bewohnbar gemacht haben muss.
Im Garten:
– feuchte Erde
– Gestrüpp aus Blumen
– Efeu
|90| – ein toter Spatz
– wilde Erdbeeren (glaube ich)
Der Boden bebt, oder? Möglich. Wir setzen uns an die Wand des Hauses, unsere Rücken werden vom Putz ganz weiß, wir rauchen und beobachten, wie die Sonne in die Stadt fährt. Ich sehe alle Adern in meiner Hand. Etwas weiter, am Fluss, lehnt ein Mann am Baum. Ganz sicher, ein Mann mit Hut. Mir ist vorher nie aufgefallen, wie sich alles bewegt, Blätter, Gras, am Boden schleppt eine Ameise ihren toten Verwandten, was für ein Drama. Es ist warm, ein Wind geht. Die Blätter rauschen in den Bäumen. Wir reden darüber, die Welt zu retten, und sind uns irgendwann ganz sicher: Runde Dinge sind besser als eckige. Dann Dunkelheit und nirgends eine Laterne, die funktioniert. Es ist einfach nur schwarz. Zigarettenglut. Es ist, als wären wir gar nicht da.
Ein paar Wochen später ist David reich. Die Menschen sind in den Laden eingefallen, als hätte sich schon wieder eine Mauer geöffnet. Der Vater von David kauft eine Packung der Pilze von seinem Sohn. Eine Fahrgemeinschaft mit Klassenkameraden, die uns für Freaks halten, weil wir nicht im Kirmesverein sind, steigt in ihren Opel Corsa und fährt »in die Stadt«, um jetzt, wo jeder so einen Pilz hat, auch einen Pilz zu kaufen. Es ist der erwartete Super-GAU in der Stadt. An der Bushaltestelle höre ich zwei ältere Damen über den Drogenladen sprechen. Wie immer ist von Heroin die Rede. Von Teufelszeug. Sie echauffieren sich, sind entsetzt und verwirrt. Ich bin so stolz, dabei zu sein, dass ich fast heulen muss. Dann kommt ein Polizist in den Laden, schaut sich in Ruhe um, nimmt sich die Informationsblättchen und tippt |91| sich zum Gruß an den Kopf, als er geht. Ein paar Tage später kommen zwei Polizisten, sagen »Gutten Tach«, nehmen sich das Gleiche und gehen. Dann ist es lange so, als säße man direkt auf einer Goldader. Das ist er also, der wunderbare Kapitalismus.
Aus der Untersuchungshaft schreibt David einen kurzen Brief: »Ich korrigiere die Briefe von einem Nazi, der Natzie mit tz schreibt (er sagt, es leite sich ja von Nationalsozialismus ab und heiße daher ›Natzi‹). Was für ein Depp. Ich habe ihm geraten, das Wort ›Nazi‹ in überhaupt keinen Brief zu schreiben. Auch nicht in einen Brief an seine Mutter. Da fragt er zurück: Ob die auch Briefe an seine Mutter lesen würden. Unterhalte mich ansonsten viel mit einem Vietnamesen, der hier auf seine Abschiebung wartet. Lese auch viel und habe eine neue Geschäftsidee. Müssen wir bald mal drüber reden. Sag mal, kennst du einen Anwalt?«
An einem windigen Tag Ende August, nachdem unsere geliebte Stadt sagen wir mal einen wunderbaren Sommer lang high gewesen ist, hat mich David angerufen. Eine neue Lieferung sei eingetroffen. Ich
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