Das Paradies
mit
Colombo.
Wir haben schon vieles aus dem Fernsehen gelernt. Eigentlich alles.
Machen wir jetzt einen Uhrenvergleich. Es ist 12 Uhr 30. Samstag. 1996. Überraschend kam der Frühling. Meine Mutter trägt einen bunten Seidenschal, den ich in der Psychiatrie bemalt habe, ich hab alle Farben draufgeschmiert, die mir zur Verfügung standen. Das hat etwas Beruhigendes, weil sie so herausleuchtet und das wie ein Widerstand gegen Beerdigungen |101| aussieht. Sie wischt meinem Bruder die Rotze von der Nase. Keine Glocke läutet. Ich nehme an, es ist der Pfarrer, der herauskommt aus der Kirche, er stellt sich zu den alten Männern mit den Nelken und den Schiebermützen, daneben stehen reife Brombeeren.
Ansonsten ist alles so wie im Fernsehen: Blumen, Pfarrer, heulende Familien. Und es ist auch genauso schön wie im Fernsehen, weil die Sonne genauso schüchtern durch die alten Bäume leuchtet und ihr Licht auf die Gräber scheint, wo dann aber leider nur Stiefmütterchen stehen. Aber wenn man von da aufschaut, kann man Birken sehen, weiße Rinde, und Ahornbäume und Linden. Ich kenne die Bäume, wir haben sie alle auswendig gelernt. Bäume sind schön, es ist ein guter Ort, so ein Friedhof im Frühling.
Meine Eltern stehen etwas seltsam fremd herum, spähen nach Verwandten. Dann winken sie erleichtert. Mein Großvater wird von meiner Tante über die fiesen Bordsteinplatten geführt. Opa Friedrich oder Frido, wie ihn alle nennen. Er war ein sehr guter Schwimmer. Bis ihm jemand in Stalingrad drei Finger der linken Hand weggeschossen hat. Oder sind sie ihm dort abgefroren? Ich weiß nicht, will nicht fragen. Wie fragt man denn so etwas?
»Friedrich«, ruft einer der alten Männer mit zerbrechlicher, rasselnder Stimme. Bis heute ist sein Name wie ein Donnergrollen, jedenfalls auf dem Land. Die alten Männer bilden um ihn einen Kreis. Stellen Fragen, nicken, geben ihm die Hand. In seinen Wäldern wird gejagt. Es sind jetzt nicht mehr die Wälder der LPG, es sind jetzt die Wälder, Felder, Äcker der Familie. Im Januar dürfen wir als Treiber in den Wald. Dazu müssen wir orangefarbenen Signalwesten |102| anziehen, und dann rufen und schreien wir durch den Wald, damit die Wildschweine und Hirsche direkt vor die Flinte von Onkel Egon laufen, der sie dann abknallt. Dann liegen Hirsch oder Wildschwein da, und wir dürfen zuschauen, wie das Fell weggebrannt wird und die Haut abgezogen usw. usf. Und dann gibt es Wildschein oder Hirsch zum Essen. Wenn man die Anzahl der geschossenen Hirsche auf die Familienmitglieder (sagen wir 20) verteilt, kommt raus, dass jeder ungefähr schon mindestens einen ganzen Hirsch gegessen haben muss.
Onkel Egon ist auch zur Beerdigung gekommen. Der wohnt jetzt allein. Über seinem Sofa hängt ein rotes Ehrenbanner der SED. »Ehrenbanner der SED« steht da drauf, es ist aus rotem Satin mit Goldrand. Ein einziges Mal haben wir ihn besucht, vor ein paar Jahren, weil er Geburtstag hatte, und wir waren die einzigen Gäste. In der Wohnung war es kalt, weil er geizig ist mit der Wärme, die Wohnung war klein und lag eigentlich nur drei Blocks von unserer entfernt. Wir sind dort auf das Sofa gestiegen und haben das Ehrenbanner abgenommen und es uns abwechselnd um den Hals gelegt und gestritten, wer es als Nächstes tragen durfte. Wir spielten den Prinzen von der Prinzenrolle nach. Es konnte nur einen Prinzen geben. Wir fragten Egon, warum er nicht mehrere SED-Ehrenbanner bekommen habe. Wir waren enttäuscht. Seit die Firma, die Prinzenrolle produziert, in unserer Grundschule einen Wettbewerb veranstaltet hat, nämlich wer den schönsten Prinzenrollenprinz malen kann – ich weiß nicht mehr, ob jemand gewonnen hat –, seitdem jedenfalls kauft meine Mutter die Doppelkekse von JA, und wir wollen Prinzenrollenprinzen sein. Wir haben also nur noch Prinzenrolle im Kopf und jeder will einen roten Umhang |103| haben. Doch den roten Ehrenbannerumhang hatten wir nicht sehr lange um den Hals, weil Onkel Egon auf die Frage, warum’s denn nicht mehr davon gab, total ausgeflippt ist.
Egon arbeitet jetzt bei Coca-Cola. Das ist besser für ihn, sagt meine Mutter, weil da kein Alkohol drin ist. Und er schleppt immer einen Kasten Coca-Cola zur Familienfeier. Ich wette, nachher gibt’s auch Coca-Cola. Wenn Geburtstagsfeiern sind und alle schön besoffen, erklärt uns Onkel Egon den Unterschied zwischen Cherry Coke und Vanilla Coke und Coca-Cola und Cola Light, und Opa Frido zitiert Stalin. Dann werden seine Augen
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