Das Paradies
vor Augen? Wie kann das sein, dass Sie sich an keinen einzigen erinnern können? Haarfarbe? Größe?«
Der Staatsanwalt stellt dem Zeugen eine Frage, die man wegen des Gequassels im Zuschauerraum nicht verstehen kann.
Maeffert: »Die Frage ist unerheblich.«
Staatsanwalt: »Dann ist Ihre Frage auch unerheblich.«
Maeffert: »Tja, Sie haben sie aber nicht beanstandet.«
Das geht ewig so weiter. Inzwischen raten Staatsanwalt und Richter David, er solle sich lieber einen Anwalt aus Weimar nehmen, das sei viel einfacher, die kenne man, da wisse man, was man hat, da könne man sicher schnell fertig werden. Sieben Verhandlungstage werden es schließlich, in denen auch ein Gerichtssachverständiger gehört wird, der die Anteile des Wirkstoffs Psilozybin in den Pilzen berechnet, und während |98| der Verhandlung beweist Maeffert, dass sich der Sachverständige um eine Kommastelle verrechnet hat, worauf dieser »huch« sagt und der Richter seinen Kugelschreiber knipst. Der Richter will das Verfahren einstellen. Der Staatsanwalt möchte eine öffentliche Hinrichtung. Am Ende wird David verwarnt, bekommt Sozialstunden und sitzt fünf Wochen als Nachtpförtner in einem Altersheim.
Maeffert schreibt einen Antrag auf Kostenerstattung, lehnt ein Honorar aber ab, er schickt David die Kopie: »Hier mein Schriftsatz, ich hoffe, er gefällt Ihnen. Grüßen Sie Ihre Eltern ganz herzlich.« Die Kosten des Verfahrens trägt der Angeklagte.
PS: Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es sich bei Psylozibin in Deutschland um eine illegale Substanz handelt. Sollten Sie dennoch mit ihr in Berührung kommen, beachten Sie Folgendes: Gehen Sie unbedingt in die Natur, dorthin, wo es schön ist, wo Sie vor allem keine nüchternen Junge-Frau-Sie-können-doch-nicht-Spaziergänger treffen. Achten Sie auf Ihre Freunde. Danke.
|99| 5. Funktionäre
Montag. Friedhof. Wir steigen aus dem Auto, warten vor dem niedrigen, braunen Holzzaun. Eine Schlange von Autos hält eins nach dem anderen genau vor dem Eingang, einem Gartentürchen aus grauem Holz. Dunkle Audis halten und ein Mercedes: Da fehlt vorne der Stern. Ein Sohn, eine Tochter, ein Fahrer öffnen die Fahrertür, steigen aus, umkreisen das Auto, öffnen eine hintere Tür. Das wiederholt sich so lange, wie wir hier warten, ich schätze, in fünf Minuten etwa fünfmal. Immer steigt ein alter Mann heraus, in einem langen grauen oder braunen oder schwarzen Mantel und mit Schiebermütze. Am Revers tragen zwei eine rote Nelke. Ihre Gesichter sind grau, tiefe Falten wie trockene Wassergräben auf der Stirn, am Hals. Gesichter wie Denkmäler, auf die man keinen Zugriff hat, deren Grund man nicht kennt. Keine guten Gründe hier. Kalter Blick. Aschgraue Mimik. Gesichter, die nicht lachen können. Man will sie auch nicht lachen sehen, wer weiß schon, worüber so einer lacht. Die Hände wie vernarbte, alte Zweige. Sie bewegen sich mühsam, manche mit Stock, alten Stöcken aus Holz, lackiert. Sie gehen gebeugt wie Menschen, die sich bedroht fühlen. Sie wickeln sich in ihre Mäntel, als hätten sie Angst. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber ich weiß, dass es da |100| etwas gibt, von dem ich nichts weiß, dass diese alten Säcke ein Geheimnis hüten. Sie sammeln sich neben uns, vor dem Holzzaun, und bilden ein Grüppchen. Das erinnert mich an eine Horde fetter Käfer, die über einen Misthaufen krabbeln und rangeln, wer den schönsten Platz auf dem Misthaufen bekommt. Ich weiß nicht, in welchem Dorf wir sind, welche Kirche das hier ist. Sie ist grau und einfach, ein Kirchturm, ein Dach, vielleicht ist da auch eine Glocke drin. Wir sind in das Auto gestiegen und mitgefahren. Sie hatten uns von unserer Lieblingsserie fortgezogen,
Parker Lewis,
drei Jungs, cool, schlagfertig, lustig, eine wichtige Überbrückungsserie bis zum
Disney Club.
Wir sehen fern, sobald wir von der Schule kommen, wir haben einen ganz genauen Serienplan. Wer die Fernbedienung hat, bestimmt den Nachmittag. Wir prügeln uns darum, denn es gibt zwischen meinem Bruder, der vier Jahre jünger ist, und mir generationsbedingte Differenzen, was den Fernsehkonsum betrifft. Wechselseitiges komplettes Unverständnis.
Parker Lewis
läuft jetzt Samstagmorgen 9 Uhr 30. Darauf einigen wir uns natürlich. Wir sehen einfach immer fern. Aus Langeweile vielleicht. Alles, was am Nachmittag läuft, und samstags auch am Vormittag.
Batman
zum Beispiel. Hausaufgaben machen wir fast nie. Wir sitzen im
Disney Club
und trinken Kakao
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