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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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feucht, weil Stalin nicht mehr im Mausoleum liegt. »Die Siegergeschichtsschreibung«, sagt er und beendet den Satz mit einem Stöhnen. Leider dürfen wir nur sonntags Cola trinken.
    Uns wurde erzählt, dass Onkel Egon bei Coca-Cola einen tollen Job hat. Jetzt steht er da mit den anderen zusammen. Opas mit Zukunftsangst.
     
    Das Besondere an Egon ist, dass er seit einiger Zeit Jeans trägt, was sehr der Mode entspricht, aber Mode – darauf hat man sich hier wortlos geeinigt – ist eigentlich nichts Gutes, eher etwas Gefährliches. Deshalb sind hier die Väter und Onkel und die Großväter sowieso in den gleichen Anzügen, Hosen, Hemden und geriffelten Pullovern erschienen. Und deshalb kaufen sie sich nichts Neues oder lassen sich nichts Neues kaufen, also von ihren Frauen kaufen, nämlich aus Überzeugung. Doch Egon hat jetzt eine Jeans. Aber das gefällt nur den Frauen. Hab ich das Gefühl. Immer mehr Männer sind gekommen, die man nicht anders als ganz neu bezeichnen kann. Neue Männer von drüben. Sie wirken größer, breiter, lauter. Sie tragen Jeans und Trenchcoat, einige beigekarierte |104| Sakkos, und die Frauen lachen und pfeifen hinterher und tuscheln miteinander, dass dieser oder jener Typ, der zum Beispiel, der in das Büro vom Bauamt hereinkommt, eigentlich hereinplatzt in das Büro vom Bauamt, in dem meine Mutter jetzt arbeitet, wo sie jetzt knapp tausend Mark verdient und an ihrer Tür »Frau Dr. Hünninger« steht – also dort platzen oft diese Männer mit Jeans und Trenchcoat herein und stehen da rum und erzählen mit den Armen Geschichten und lachen laut von tief unten, von tief aus dem runden festen Bauch heraus, Männer, die so aussehen, als würden sie den Damen gern Blumensträuße mitbringen, Männer, die beim Herausgehen immer noch reden und erst aufhören, wenn die Tür wirklich zugezogen ist, und dann tritt für einen Moment eine Stille ein, als hätte es so etwas wie Stille niemals zuvor gegeben, und dann endlich sagen die Frauen: »Der Mann hat Schmiss.«
    Solche Männer machen die alten Chefs ziemlich wütend, die stehen dann da, mit ihrem Aktenordner, und ihnen fällt nichts dazu ein. Manchmal knipst der Chef meiner Mutter auf dem Kuli herum und sagt: »Idiot.« Und die »Damen«, also meine Mutter und Tante Angelika, deren Mann sich letztes Jahr auf dem Dachboden erhängt hat – und das noch nicht einmal auf dem eigenen, sondern auf dem Dachboden, auf dem alle Hausparteien ihre Wäsche aufhängen, und das weiß jeder, weil sie im Dorf Dasdorf wohnt, wo jeder Bescheid weiß, aber niemand fragt, und deshalb steht sie genauso außerirdisch da herum im Büro vom Bauamt wie meine Mutter, die »Frau Doktor« –, diese zwei Damen jedenfalls tippen dann vom Chef wieder ein Diktat ab und kleben die Bilder ihrer Kinder an ihre Computerbildschirme. Am Computer meiner Mutter hängt ein Bild, das uns drei Kinder zeigt, pyramidenartig aufgebaut vor weißem |105| Hintergrund, und meinem Bruder läuft Rotz aus der Nase. Ihr Chef fragt mich ständig, warum meine Brüder niemals kämen, und ich erkläre immer wieder, dass sie keine Zeit haben. Ich spar’s mir zu sagen, dass ich nur einen Bruder habe und der Rest Mädchen sind, weil der Typ sich das nicht mal bis zur Kaffeemaschine merken kann. Er hat einen Schnauzbart wie eine Klobürste, wenn sie schon etwas in Benutzung war. Das ist wohl wichtig, wenn man Chef ist: dass man sich einen Schnauzbart zulegt. Männer, die herrschen, das lernt man in Geschichte, haben einen Schnauzer. Wenn ich zum Zahnarzt muss, warte ich im Bauamt, dann spielt Tante Angelika mit mir am Computer Solitär, oder ich sortiere Kugelschreiber nach Farben, oder ich suche auf den großen Grundstückskarten, wo wir wohnen. Unser Plattenbauviertel ist aber nie zu sehen.
     
    »Dreifachzoom!«, sagt Egon zu meinem Vater. »Ich soll Bilder für die Kinder machen, die wollten nicht kommen. Heutzutage darf man ja niemanden mehr zwingen.« Egon trägt jetzt eben auch eine Jeans und am Handgelenk einen Fotoapparat. Der hat Zoom. Über den reden jetzt alle. Auch die Witwe. »Mein Beileid«, sagt Egon und die Frau sagt: »Danke. Der hat Zoom?« Einen Zoom zu haben ist hier, wie bei Coca-Cola zu arbeiten, und bei Coca-Cola zu arbeiten ist wie einst eine Anstellung in der Versorgungsabteilung der SED-Kreisleitung – der große Knaller. Obwohl keiner weiß, was Egon da macht, bei Coca-Cola oder als Erster Sekretär. Man muss dann gar nichts mehr tun für sein Ansehen. Man kann damit hier

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