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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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sehr viel hermachen.
    Jetzt bewegen sich alle Richtung Kirche. In der Kirche ist es kalt. Vorn ist ein Sarg aufgebaut. Die Klappe ist offen. |106| Wir setzen uns, und vorne beginnen die Ersten zu flennen. Der Pfarrer stellt sich hinter den Sarg und sagt Worte wie: »Guter Mensch, liebevoller Vater, Ehemann, Großvater, ein guter Jäger und Schlachter. Er war sehr tierlieb und führte stets zwei bis drei Zwergpudel spazieren.« So etwa fasst der Pfarrer die Jahrzehnte eines Lebens zusammen. Eingedampft in einen Satz. Vielleicht auch ein paar Sätze, so genau hört man ja doch nicht hin. Die Rede, die einen am meisten interessiert, wird man nicht hören können. Vielleicht ein Glück. Vor mir löst ein Mann das Kreuzworträtsel der Lokalzeitung, genannt »Rätsel-Brezel«. Das Gedicht »Der Herr ist mein Hirte« gefällt mir sehr. Es ist schön, ich kann es mir richtig vorstellen, grüne Weiden kommen darin vor, und alles klingt, als sei das das Paradies. Es muss schön sein dort, wirklich schön. Ich höre genau hin, da scheint nichts verboten zu sein: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.« Cool.
    Der Pfarrer ist fertig, das merkt man daran, dass alle aufstehen, man singt. Kurz setzen sich alle, dann stehen wir wieder auf. Unheimlich leise und selbstverständlich, als wüsste jeder genau, was zu tun ist, als hätten sie das schon hundertmal so gemacht. Dann schleichen sie aus den Reihen wie Tiere.
    Egon hat in der zweiten Reihe gesessen, er geht jetzt vor zum Sarg, beugt sich darüber und fotografiert in den Sarg hinein. Es blitzt. »Die zoomt«, sagt er nach hinten, und dann schnurrt der Zoom heraus wie ein Fernglas. »Für die Kinder«, sagt er, »denn die Kinder können heute nicht dabei sein«, und er knipst noch einmal, aber nicht mehr in den Sarg, den hat er ja schon, sondern in die Menge hinein. Wieder ein Blitz, mit dem keiner gerechnet hat. Dass der |107| einen immer so kalt erwischt und für einen Moment halb blind macht! Wie Schäfchen gucken wir Onkel Egon an: »Uups, hat’s gerade geblitzt?«
    Plötzlich muss ich anfangen zu lachen, ich kann es nicht aufhalten, es geht nicht. Kirche, ein offener Sarg, ein Pfarrer, flennende Frauen. Ich lache, Birgit lacht, Michel lacht. Ich gucke Birgit an und wir müssen noch heftiger lachen, es platzt einfach aus uns heraus, keine kann es noch halten. Der Blitz, der Sarg, die flennenden Frauen, Schuldgefühle, aber wir lachen. Da hilft keine Hand vor dem Mund, die Tränen kommen, wir krümmen uns, es hilft kein Blick zum Boden, es hilft auch nicht der Klaps auf den Hinterkopf. Wir können nicht aufhören. Dann zerrt uns mein Vater raus ins Licht. Ich muss blinzeln, und außerdem wird mir schlecht. Mir wird schlecht, weil es gleich Ärger gibt und der Bauch vom Lachen müde ist. Ich übergebe mich vor der Kirche in meine Hände, versuche, es aufzufangen. Dann gucke ich hoch, sage: »Uups, es hat geblitzt«, und lache und sehe meinen Vater, meine Schwester und einen Friedhof. Bei drei Kindern ist es immer so, dass nur zwei festgehalten werden können, der Dritte läuft aber trotzdem automatisch hinterher, selbst wenn es nicht zum eigenen Vorteil ist, wenn man eigentlich wegrennen sollte. Grotesk irgendwie.
    Mein Vater holt sein Stofftaschentuch heraus, das nach der Wäsche gebügelt wird, und wischt mir die Kotze aus dem Gesicht, und ich grinse. Es reicht natürlich längst. Eine alte Frau gießt die Blumen auf einem Grab. Carolin guckt herüber und schüttelt den Kopf. Carolin ist meine Cousine, sie hat eine Zahnspange. Es zischelt, wenn sie redet. Ich hätte auch gern eine Zahnspange und drücke gegen die Schneidezähne und hoffe, dass sie schief werden.
    |108| Zum Beerdigungsessen werden wir aber dennoch zugelassen. Das ist gut. Ich habe Hunger. Vom Friedhof aus laufen wir ein paar Minuten eine gepflasterte Straße entlang. Mein Vater zeigt auf den Wald, der um das Dorf herum die Hügel bedeckt. »Das und das und das und das gehört uns. Dahinter geht’s noch weiter. Wenn der Opa stirbt, werden wir ein Drittel von allem bekommen.« Er bleibt stehen und zeigt im 360-Grad-Winkel auf alle grünen Zipfel, die man von hier aus sehen kann. Wir gehen oft in diesen und anderen Wäldern spazieren, lange, strapaziöse Spaziergänge, besonders an Ostern. Und immer wird dann gesagt, was unserer Familie gehört. Südlich von Weimar ziemlich viel, schätze ich. Es sind ätzend lange

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