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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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du in diesen dunklen Technokellern deine eigene Welt. Du weißt jetzt, dass eine neue Zeit beginnt. Deine Zeit.
    Wir schauen den Zügen nach, stehen bereit, warten in den Startlöchern darauf, mit dem goldenen Zug nach Berlin zu fahren. Elektro, Elektro, ich weiß schon, das wird eine Leidenschaft für immer. Er schreibt mir Sachen wie: »Wenigstens kommst du nicht aus Anklam. Die erste Stadt, die sich judenfrei gemeldet hat. Na gute Nacht. Noch besser wäre, du kämst gar nicht aus der Zone. Tschau.« Und das stimmt. Sebastian ist vier Jahre älter. Das macht enorm viel aus. Er hat zum Beispiel noch ein Pioniertuch getragen. Ich weiß nicht einmal, welche Farbe die haben, und bin zu faul, im Internet nachzuschauen. Wie das wohl war, mit einem Tuch und in so einer Gruppe mit Aufgaben und Hierarchie usw.? Vier Jahre, das ist eine ganz andere Planetenlaufbahn. Die Technoszene zum Beispiel, die ist erst durch die Ostdeutschen groß geworden. Durch die vier Jahre älteren. Ich habe davon nichts mitbekommen. Meine Mutter schenkte mir einmal eine Technokassette zum Kindertag, da war ich zwölf. Ich bekam totale Angstzustände, als ich sie mir anhörte. Techno war noch weit weg. Das Meer auch. Ich habe eine Janis-Joplin-Platte. Kennt hier auch keiner. »Warum schreit die denn so?«, fragte mein Vater. »Weiß nicht. Weil sie was sagen will, vielleicht.« Er besah sich die Platte und |194| vor allem die Zeitangaben. Er hatte die Eigenart, die Songs seiner Platten zu hören und mit einer Stoppuhr die Zeitangaben nachzuprüfen. Nach seiner Theorie wäre es richtiger, vom ersten bis zum letzten Ton zu messen. Dann kämen viel kürzere Spieldauern heraus. Ein Lied beginnt, sagt mein Vater, mit dem ersten Ton und endet mit dem letzten. Er hat ein paar Ordner angelegt, weil er für jede seiner Platten die Spieldauer kennen will. Zahlen sind Fakten. Ein Hobby.
    Zu dem spezifischen Ostaussehen, zu dem jedenfalls, was sich Westdeutsche unter einem Ostdeutschen vorstellen, komme ich gleich. Im Urlaub haben wir es vermieden zu sagen, woher wir kommen. Wir haben keinen Dialekt, kamen deshalb gut durch. Niemand sagte: »Was? Du kommst ausm Osten? Siehst gar nicht so aus!« An die Ostsee kamen inzwischen weniger Ostdeutsche. Die Bungalowsiedlung war auch bald leer im Sommer. Jeder fuhr nach Teneriffa oder Ibiza oder Mallorca. An die Ostsee kamen Schwaben und Niedersachsen. Ganze ostdeutsche Urlaubsgebiete wie Kroatien und Ungarn sind pleitegegangen.
    Wenn doch klar wurde, woher wir kamen, war viel Mitleid in den Augen des Gegenübers zu erkennen. Man hält uns für Diktaturenkinder, die schon im Kindergarten einen ganz enormen Knall bekommen haben: durch gemeinschaftliche Klogänge, Stasikindergärtnerinnen, freilaufendes Viehzeug und kommunistische Propaganda, die uns die Birne praktisch bis oben hin vollgeschissen hat.
    Wobei ich zugeben muss, dass der Kindergarten eine ziemlich harte Nummer war, weil es da eine stramme 60-jährige Hexe gab, die mittags Schlafkontrollgänge machte. »Schlafen!«, forderte sie uns auf, und in jedem Doppelstockbett klappten vier Augenpaare zu, meine Schwester und ich |195| quetschten uns oben gemeinsam auf eine Matratze, sie hinter mir, weil die Hexe kontrollieren kam und manchmal minutenlang auf unsere Augenlider starrte. Sie roch nach Zitronentee und Eukalyptusbonbons, und wer blinzelte, den fuhr sie an: »Ich hab dich blinzeln sehen! Geschlafen wird jetzt!« Nach einer Weile fanden wir heraus, dass sie diejenigen, denen kräftig Spucke vom Mundwinkel tropfte, in Ruhe ließ. Weil ich besser sabbern konnte als meine Schwester, legte sie sich hinter mich. Und ich ließ die Spucke großzügig auf das Kissen tropfen. Wenn wir nicht schliefen oder so taten als ob, sammelten wir Kastanien, Ilmproben und Fingerabdrücke und stellten sie aus. Wir erinnern uns gerne an unsere Frotteeschlafanzüge. So lebten wir von einer Sensation zur nächsten. Aber das Bedürfnis, nicht als Ostdeutsche erkannt zu werden – das stellte sich schon sehr bald nach dem Kindergarten ein und wurde so etwas wie eine über unser Leben gestellte Überschrift: Wir sind ein Volk.
    Woher eigentlich das Bedürfnis nach Angleichung? Nach Vereinheitlichung? Lernen wir nicht in der Theorie, dass innerhalb einer Gesellschaft, unter einer Verfassung verschiedene soziale Prägungen aufeinandertreffen? Ist das nicht die Bedeutung von Pluralismus? Und heißt es nicht, dass dies eine Bereicherung ist für die Gesellschaft? Aber Ostdeutschland, das

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