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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Silz. Nein, nicht in Sils in der Schweiz und auch nicht auf Sylt, sondern in Silz. Bungalowsiedlung, Tannenzapfen, aus denen Ohrenkneifer krabbeln, Badesee mit FKK-Ufer, Sandboden, in dem man die Füße kühlt – fast wie am Meer. Dort gibt es Einraumbungalows, manche mit einem kleinen zweiten Zimmer, in dem ein Doppelstockbett für die Kinder steht, und alle mit Grill. Meine Eltern haben deswegen extra im Globus-Supermarkt, wo es ihrer Meinung nach noch anständige Bratwürste aus den Thüringer Fleischereien gibt, Bratwürste und Bretel gekauft, und meine Mutter hat die Bretel eingelegt mit Zwiebeln und Spreewaldgurken aus |191| Thüringen. Ich erinnere mich, dass sehr oft und sehr lange über Würste geredet wurde. Das war wichtig, es war nämlich nicht mehr so einfach, die eigenen Würste zu finden, jedenfalls eine Zeitlang, bis sie irgendwie plötzlich wieder verlangt wurden, vor allem von den Touristen. Da hat unsere Nachbarin mal gesagt: »Siehst, ist doch was Gutes im Osten.« Sie meinte die Würste. Sind ja auch super. Meine Mutter zum Beispiel, die hat ja nie koscher gelebt, sie mag sogar Schweinefleisch. Wie ein Widerstand. Wir als Kinder haben dann eher angefangen, das ein bisschen einzudämmen. Wir mochten das nicht. Das war wie ein Affront. »Unsere guten Thüringer Würste wollt ihr nicht essen? Wenn ich an früher denke, da hätten wir jemanden umgebracht, um so viele Würste essen zu können.« Ein richtiger Fetisch. Die Fetischisierung der Bratwurst. Ich mag sie sehr, auch wenn ich sie nicht esse.
    Wenn wir also Urlaub in Silz machten, hingen wir die meiste Zeit in der Bungalowsiedlung oder am Strand herum oder vorm Grill. Für uns wurden extra Geflügelwiener gekauft. Es war wunderbar. Man denkt immer, solche Momente kann man nicht wiederholen. Das stimmt meistens, aber das Grillen und der Urlaub mit der Familie und die Abende mit dem Sonnenuntergang, an denen man so heftig von den Mücken zerstochen wurde, das haben wir alles wiederholt. Jahr für Jahr. Und es war immer gleich gut. Nichts nutzte sich da ab. Als hätte man es immer neu erlebt: die Wienerwürstchen und die Mücken. Herrlich.
    Manchmal fuhren wir auch nach Warnemünde, aßen Broiler im Neptunhotel und bestaunten das Meer. Im Neptunhotel – das größte Hotel, das ich bis dahin betreten hatte, nein, ehrlich gesagt das einzige – gab es unten ein Bistro und |192| eine Terrasse. Auf die durfte man sich aber nicht in Badebekleidung setzen, das war verboten. Wir hätten uns das nie erlaubt, im Bikini vom Strand wegzugehen, und ich glaube, den meisten anderen wäre das auch peinlich gewesen. Aber einmal setzte sich an unseren Nebentisch eine dicke Familie mit zwei Söhnen und die Frau trug einen grünen Badeanzug und der Mann vorn einen Bierbauch, so groß, dass er in einiger Entfernung zum Tisch bleiben musste. Sie sprachen einen Dialekt, den ich nicht kannte, irgendwas Südliches, sagte meine Mutter, daraus schlussfolgernd, dass wir die nördlichen in der Regel gut verstehen konnten. Jedenfalls »ausm Westen«. Die Kellnerin hat sie gebeten, etwas anzuziehen. Sie haben die Sachen aus der Badetasche herausgeholt und am Tisch angezogen. Das war so peinlich. Das sind so Sprüche, die du nie hören willst. So Sprüche wie: »Entschuldigen Sie, das war keine Sauna.« Oder einfach: »Bitte ziehen Sie sich etwas an.« Mein Bruder hat sich daraufhin den obersten Hemdknopf zugemacht.
    Aber das Essen war lecker. Und meine Eltern haben sich sehr wohl gefühlt. Es gab immer Orangensaft und Pommes dazu.
    In der Bungalowsiedlung stritt sich Sebastian mit uns. Er meinte, dass wir doch Jungen seien, Birgit und ich, weil wir kurze Haare trugen und nicht mit Puppen, sondern mit Bauklötzen spielten und später dann mit Matchbox-Autos. Am Anfang haben er und seine zwei Brüder uns verprügelt. Irgendwann wurden wir Freunde. Er kommt aus Anklam. Manchmal schreibt er noch. Jedes Wochenende fährt er nach Berlin, drei Tage Flucht in den Technokeller. Die goldene Rave-Ära. Du bist an einem Ort, einem neuen Ort, dem Keller, eingetaucht in eine neue Musik. Du bist nicht |193| mehr allein. »Rave«, rufen sie. Etwas, das es ohne sie nicht geben würde. Eine Sache, für die du unentbehrlich bist. Du bist kein Nachgeborener. Hier bist du hineingeboren. In den Keller. Du nimmst Ecstasy, das es in ganz neuen Farben gibt, das hat vorher noch niemand genommen. Das können dir deine Eltern nicht verbieten, sie wissen gar nicht, was das ist. Es ist, als gründetest

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