Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
Vom Netzwerk:
besser ist? Ich weiß es nicht. Auch egal. Wir brauchten die Kotzkaugummis.
    Was für ein Urlaub. Einmal raus ausm Plattenbaudreck! Richtige Freiheit erleben! Im Ausland! In Frankreich! Wir fuhren eine Strecke, die uns über die Schweiz nach Italien und dann erst nach Frankreich führte. Die letzte Radiodurchsage, die wir verstanden, kam in Bayern. Sie lautete: »810   000 Haushalte in den neuen Bundesländern haben schon einmal über einen Wohnsitz im Ausland nachgedacht. Dies ist das Ergebnis einer Befragung des Instituts für Marktforschung in Leipzig …«
    In Italien, da war auch so eine Sache auf der Autobahn. »Wieso haben denn die Schilder hier andere Farben?« Ich möchte nachträglich antworten: »Weil wir in einem anderen Land sind.« Damals fuhren wir über einige Bordsteine und Grünstreifen, weil mein Vater meinte: »Die haben vergessen, hier einen Abzweig einzubauen. Das ist doch total dämlich, wie soll man denn dann da hinüberkommen?« Ich weiß |199| nicht. Waren es wirklich die Länder, die so idiotisch waren, oder waren wir es? Keine Ahnung. In solchen Momenten bot es sich an, die Klappe zu halten.
    »Können wir nach Disneyland fahren?« Eine geflüsterte Frage. Antwort: »Spielt mal was.« Gab es in der DDR eigentlich auch eine Art Disneyland? Einen Freizeitpark? Hat man gelacht in der DDR?
    Kleine, nicht so überzogene Disneylands, würden meine Eltern antworten, gab es vielleicht, als wäre ein bescheidener Rummel dennoch ein Rummel. Aber einer, der den Sozialismus predigt: Im Nachhinein wird dieses DDR-Land eine Art Wunschbild, ein Träume-Schäume-Fata-Morgana-Staat. Es gibt so viele verschiedene DDRs im Kopf, je nachdem, in wessen Gegenwart man sich befindet: Da gibt es das Stasiland, das Folterland, das Eingesperrt-Land, das Land, an dessen Grenze man erschossen wird, und es gibt die DDR, die kein Disneyland brauchte, weil sie selbst eines war, ein Traumland des ich weiß nicht was alles: das Traumland der kostenlosen Kindergärten, von mir aus. Traumland der orangefarbenen Tapeten, der einfachen Leute, des übersichtlichen Lebens. Traumland für Hineingeborene. Keine-Zukunftsangst-Traumland. Keine-Absturzgefahr-Traumland. Land der schöner gestylten Kaffeekannen. Traumland des Mitropa-Geschirrs.
     
    Zwischenhalt in Cannes. Seit einer halben Stunde irren wir durch das Parkhaus. Die Reise ist strategisch geplant. Für jede Stadt, die wir anfahren wollen, haben wir einen Stadtplan dabei. Doch für Parkhäuser gibt es keinen Straßenplan. Gäbe es einen, wir hätten ihn. Wir suchen den Ausgang. Bisher hatten wir keine Probleme. Bisher verlief der Tag nach Plan. Wer hätte denn ahnen können, dass in Frankreich die |200| Wegweiser zum Ausgang fehlen? »Sortie« leuchtet es nur immerzu an den Kreuzungen.
    Fünf Augenpaare zwinkern aus dem Opel Vectra in die Dunkelheit des Parkhauses. Einsam treiben wir durch ein dunkles, kaltes Universum. Von Untergeschoss zu Untergeschoss, für immer im Wurmloch gefangen, in Zeit und Raum verloren. Das Radio ist zu laut. Wir verstehen es sowieso nicht. Dann knistert es nur noch. Kein Empfang mehr. Wurmloch. Parkhaus. Auf der deutschen Autobahn sagte das Radio einmal: »Nach einem Bericht der F. A. Z. soll das Universum jetzt mindestens 125 Milliarden Galaxien – anstatt, wie bisher vermutet, einhundert – haben … Darauf deutet die große Rotverschiebung des Lichts von 6,68 hin.« Wir schauten kurz in den Himmel.
    Im Parkhaus schauen wir auf eine graue Betondecke.
    Wer hätte denn ahnen können, dass Parkhäuser in Frankreich eine Falle sind? Mein Vater stoppt den Wagen an einer Kreuzung, lässt den Kopf auf das Lenkrad fallen. Es nützt nichts, jemanden zu fragen, das haben wir bereits an der Mautstation versucht, doch es hat sich herausgestellt, dass in Frankreich Französisch gesprochen wird und in dieser Familie niemand des Französischen mächtig ist. Langsam rollten wir in das Land hinein, und mein Vater stellte ängstlich fest: »Hier sind überall Franzosen.« Und es wurden immer mehr!
    »Wo verflucht geht es hier raus? Das kann doch nicht wahr sein! Radio aus! Wo ist die Karte?«
    »Die Karte bringt hier nichts!«
    »Ich erschieß mich gleich.«
    »Soll ich jemanden fragen?«
    »Lass mich suchen!«
    »Such!«
     
    |201| Das erinnert mich daran, wie meine Eltern allein nach Berlin fuhren. Am Kurfürstendamm wollten sie einen Videorekorder kaufen. Meine Mutter ist in Berlin geboren. Den Kurfürstendamm aber haben beide noch nie zuvor betreten.

Weitere Kostenlose Bücher