Das Paradies
ist kein Pluralismus, das ist etwas ganz anderes: Das ist eine Zeit. Eine Phase. Eine Phase, in die du hineingeboren wirst und aus der du dich freizuschälen versuchst. Lucian, David, Jule, Florian: Niemandem von ihnen werden Sie anhören können, dass er oder sie aus Weimar stammt. Unseren Heimatdialekt können wir alle längst nicht mehr.
In Bayern fragte mich einmal eine Freundin, ob ich mit zum See kommen wolle. Ich sagte »no«. Sie sagte »Okay« |196| und verschwand mit dem Rest der Clique. Am Abend sah ich sie und ihre Freunde im Dunkeln über das Feld auf den bayerischen Hof laufen. Ich verstand nicht, warum sie ohne mich gegangen waren. Als ich sie später fragte, warum sie nicht Bescheid gesagt habe, runzelte sie die Stirn und sagte: »Du hast doch nein gesagt.«
»No heißt ja. Das ist doch klar.«
»No ist französisch und heißt nein.«
»Nein!«
»Doch!«
Dann haben alle gelacht: »Im Osten heißt Ja Nein!«
»Nein, das Ja klingt wie ein Nein, aber in Thüringen heißt das Ja.«
Wir hatten es durch Bayern ohne größere Unfälle geschafft, das war ja schon Ausland für uns. Also waren wir bereit für das Ausland, und was war mehr Ausland für uns als Frankreich? Aber dort kam es schon an der Grenze zu einem Zusammenprall gleich mehrerer Planeten, darunter ein französischer Mautbeamter, den mein Vater zunächst für einen Grenzbeamten hielt. Dieser fragte nach einem
billet
.
Billet?
Was soll das sein?, fragte mein Vater auf Deutsch. »Pardon?« Gegenfrage. Das ging so ein paarmal hin und her. Ich erinnere mich, wie mein Vater in den Rückspiegel schaute, mit Panik in der Stimme nach Französischkenntnissen in der Familie fragte und begann, mit dem Franzosen überraschend fließend Russisch zu sprechen. Er sagte plötzlich sehr viel auf Russisch. Niemand verstand ihn. Minutenlang ging das so. Es war ein wunderbarer Augenblick. Im Jahr 10 nach dem Mauerfall, also 1999, stehen wir an einer französischen Mautstation und mein Vater findet sich |197| so gut zurecht, er könnte auch auf dem Mars sein: Spätestens, als mein Vater nach unverstandenen Gesten beginnt, mit dem Mautbeamten, den er für einen Grenzbeamten hält, und die Mautstation für eine Grenzstation, spätestens nach dem Satz »Hünniger« (»Ich heiße Hünniger und ich komme aus der DDR«) suchte der Mann, schien mir so, nach einem Notausgang. Wir auch. Vom Rücksitz aus war uns die Situation jedenfalls ganz klar: Damit wollten wir jetzt nichts zu tun haben. Wir schlossen die Augen und begannen leise, aber für alle Beteiligten hörbar, zu schnarchen, damit uns niemand ansprach. Wir standen mit dem Auto an der französischen Mautstation, drei Kinder mucksmäuschenstill hinten im Auto. Deutsch, Französisch, Achselzucken, Verzweiflung, Russisch, alles ging durcheinander. Hinter uns mit sicherem Abstand (deutsches Kennzeichen) eine extrem lange Schlange. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie meinem Vater die Augen immer weiter aus den Augenhöhlen hervortraten. Dann herrschte totale Stille. Drückende Schockstarre. Kein gutes Zeichen. Wir saßen im Auge des Orkans. Dann quietschten die Räder. Das bilde ich mir der Dramatik wegen natürlich ein. Also: Keine Räder quietschten. Fakt ist: Unsere Köpfe knickten nach vorn. Mein Vater hatte den Rückwärtsgang eingelegt und das Auto dann schnell gewendet. In den folgenden zehn Minuten fuhren wir als Geisterfahrer die französische Autobahn zurück bis zur nächsten Ausfahrt. Mit einiger Verzögerung, wir standen plötzlich lebendig und unverletzt am Rand einer Landstraße, fingen alle an zu schreien.
Seltsames Verhalten. Mir erscheint das eigenartig und logisch zugleich. Wir rollen in das Land hinein wie auf ein Mienenfeld. Diese Weltfremdheit, diese Unsicherheit, ein |198| Unwille zu improvisieren, Angst vor dem Fremden. Die völlige Unkenntnis: Ortsunkenntnis, Sprachunkenntnis. Die gänzliche Verzweiflung an der Umwelt. In diesem Moment möchte ich meine Eltern umarmen und einzäunen und vor der fremden Welt schützen.
Da standen wir am Straßenrand, uns war übel, wir beugten uns über den Asphalt, heftig atmend, trotz der Kotzkaugummis im Mund, die nötig waren, weil sich an den Geruch des Opel Vectra Caravan einfach keiner von uns so recht gewöhnen wollte. Ein Geruch war das, der dir in den Magen kriecht. Ich roch das Benzin im Trabi ja ganz gern, klar, dass das nicht so gesund war, aber sind wir uns da ganz sicher, dass dieser Plastikgestank, dieses beißende Kunstlederparfum
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