Das Paradies
»Ich kenn doch Berlin«, sagte meine Mutter, »das ist die Heimat. Heimat ist dort, wo man keinen Stadtplan braucht.« Nach vier Stunden riefen sie zu Hause an.
Ich ging ans Telefon. Mutter nervös. »Ich steh hier gerade auf dem Mehringdamm. Der muss ganz in der Nähe vom Kurfürstendamm sein. Hol bitte eine Karte und schau, wo wir sind. Ich warte so lange.«
»Wieso? Was ist los?«
»Das ist doch alles Mist, ich kenne Berlin, ich bin hier geboren. Den Rest kenn ich ausm Fernsehen. Dachte ich.« Pause. Klick. Eine Münze fiel.
Hier im Parkhaus vermute ich langsam so etwas wie Absicht. Meine Eltern sind wie unmündige Kinder oder sagen wir eingeschränkt geschäftsfähig, sie verkörpern die reine Ohnmacht, die sich in einem Anfall von epochalem Größenwahn auf die Reise begeben hat. Es ist eine selbstverschuldete Unmündigkeit, aus der sie einen einzigen Ausweg kennen, nämlich der ganzen Welt zu widersprechen und Widerstand zu leisten. Zum Beispiel in einem Parkhaus, in dem sie eigentlich nur dem einzigen aufleuchtenden Schild folgen sollten, »Sortie«, einem echten Ausweg. »Du, Mama, vielleicht versuchen wir es mal mit diesem ›Sortie‹? Kann ja nicht schlimmer werden.« Und dann stellen wir uns wieder schlafend und sabbern auf das Arnold-Schwarzenegger-T-Shirt meines Bruders, der in der Mitte sitzen muss.
Aus einer sehr arroganten Haltung heraus bemitleide ich |202| meine Eltern und frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, so eine Art Disneyland, so etwas wie einen großen Themenpark aus der DDR zu machen.
Das Hoheitsgebiet der DDR hätte mit dem Sturz der SED-Regierung in ein Reservat umgewandelt werden müssen. Ein Reservat, das Ostdeutschen erlaubt, unter ihren gewohnten Bedingungen weiterzuleben.
Um das Projekt zu finanzieren, hätte man Teile dieses Reservats in einen Themenpark umwandeln können, man hätte einfach nur an den Eingängen von Kombinaten Kassenhäuschen aufstellen müssen und schon hätten Kartenabreißer angestellt werden können.
Seit vielen Jahren wird das Konzept am Checkpoint Charlie erfolgreich erprobt. Sogar Margot Honecker könnte jeden Abend außer montags in einer Varieté-Show auf ihr »Experiment« anstoßen, und in einem Schauprozess ähnlich dem London Dungeon könnten für alle gänsehautfreudigen Besucher ehemalige Stasispitzel verurteilt werden. Falsche Grenzer könnten Fantasiestempel in die Pässe hämmern. Tomaten- und Kartoffelbauern würden für westdeutsche, amerikanische und chinesische Großstädter LPG-Führungen geben. Arbeitslosigkeit wäre so nie ein Thema geworden. Blühende Landschaften wären das geworden: die DDR als großer Themenpark. Als Maskottchen schlage ich das Sandmännchen vor.
Für 64 Millionen Deutsche ist die DDR Ausland. Denken die Deutschen an Ostdeutschland, denken sie an grau und kalt, grau und verfallene Häuser, grau und grau.
Auch lange nach 1989 ist Ostdeutschland für die meisten Westdeutschen noch immer ein fremdes Land.
|203| Hans, unser Rechtsanwalt, schenkte mir einen DDR-Reiseführer, 1990 in Westdeutschland erschienen, in der Reihe
Reise-Know-how:
»Hat meine Frau gekauft. Aber den brauchen wir doch gar nicht.«
Wir schafften uns nämlich genau drei Dinge an nach der Wende: einen Videorekorder, einen Steuerberater und einen Rechtsanwalt. Unser Rechtsanwalt Hans kam 1991 aus Frankfurt am Main nach Weimar. An einem sonnigen Tag saß mein Vater auf dem Wartestuhl seiner Kanzlei und sagte zu mir: »Der Westen hat uns einfach überrollt.«
Und dann ging die Tür auf und der Westen stand vor uns. Er war ein Kavalier mit hochgebürsteten schwarzen Locken. So etwas wie eine Naturgewalt. Der Raum war voll, wenn er ihn betrat, seine Stimme hörte man schon von weitem. Seine Krawatten waren schön, seine Anzüge schwarz oder dunkelgrau, seine weißen Hemden gesteift. Die Frauen in unserem Viertel sagten: »Mal ein Mann mit Schmiss.« So schön seine Frau war, so schreckeinflößend war sie. Wir hatten Angst vor ihr, wenn sie in ihren schönen Pullovern hinter Hans zur Tür hereinwandelte. Dann bekam sie ein Kind und blieb zu Hause. Hans hatte auch eine Modelleisenbahn.
Der Reiseführer hat mir mehr erzählt als jede Geschichtsstunde.
Ich habe ihn auch in Frankreich dabei. Man kann nie wissen, wie die Eltern in fremder Umgebung reagieren.
Obwohl die Autoren überrascht sind, »daß der östliche Teil unseres Vaterlandes ein so vielseitiges, ein so attraktives und auch stellenweise ein so ungewöhnliches
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