Das Paradies
Reiseziel sein könnte«, und den Touristen auffordern, »vorurteilsfrei, mit offenen Augen und offenem Herzen« zu reisen und »bitte nicht den reichen Onkel aus dem Westen [zu spielen], der |204| mit Geld um sich wirft und alle nach seinem Kommando tanzen läßt«, erscheint die DDR in dem Buch wie die Mongolei. Für Westdeutsche ist die DDR ja vielleicht auch so fremd wie die Mongolei.
Im Kapitel »1.2.5 Freud und Leid im Straßenverkehr« heißt es zu den Ampelphasen: »Es scheint, daß auch hier Ordnung und Gehorsam vor dem Prinzip Vernunft und freier Wille rangiert …« Das ist süßer Ideologietrash. Kalter Krieg. Es würde mich nicht wundern, wenn der Autor bald Dinosaurierknochen ausgräbt. Kalter Krieg, Dinosaurier, Gamaschen.
Die Revolution wird gelobt, als wären wir nun endlich in der besten aller Welten angekommen. Die Wende gilt als außerideologisches, bisher lediglich versäumtes historisches Ereignis und als Sieg der menschlichen Natur. Der Kapitalismus als eine Art Urzustand. Paradoxerweise wird die Revolution als etwas Gutes bewertet und gleichzeitig als etwas nicht Nachahmenswertes. Ich habe eine Großdemonstration in Deutschland gegen Ungerechtigkeit, Armut, Korruption, absonderliche Kriegseinsätze, jährlich 8000 Drogentote und Ähnliches noch nicht erlebt. Auch ich krieche vor dem Bestehenden.
Ist der Kapitalismus eigentlich der Urzustand des Menschen? Sind wir glücklicher als jemals zuvor? Klüger? Haben Sie das Gefühl, an einer Ampel wartend, wenn Sie mal nach links oder rechts auf die Profile Ihrer Mitmenschen schauen, dass wir klüger, netter, schöner, nein, gerechter, toleranter, höflicher geworden sind? Wie auch? Denn Kapitalismus gründet sich nicht auf Erfolg oder die Aussicht auf Erfolg. Der Antrieb im Kapitalismus, seine Basis ist Angst. Angst vor dem Abstieg, |205| Angst vor dem Abseits. Angst, zu verlieren. Wir freuen uns, wenn in anderen Ländern Revolutionen stattfinden, gegen Machthaber, die wir eine Woche zuvor noch nicht einmal kannten, und jubeln den Völkern zu. Wir aber, in unserem System, sind die besten, gefügigsten Untertanen, die sich ein Machthaber nur vorstellen kann. Der Idee von Widerstand im eigenen Land wird jede Originalität abgesprochen.
Der Geist der Utopie weht, wo Zusammenbrüche drohen oder schon eingetreten sind. Philosophie ist immer die Philosophie der Rettung. Wir sehen heute die Versuche, berechenbare Gefahren einzudämmen. Die Gegenkräfte, die um Macht, Einfluss oder Gewinn fürchten müssen, ergehen sich in Verharmlosungsstrategien, aber nirgendwo kann man eine Rückbesinnung auf »sozialistisch-demokratische Geschäftsmodelle« erkennen, die in der BRD in den Siebzigern immerhin noch diskutiert wurden. Mich erinnert die Macht der Kapitalmärkte an die Monopolherrschaft der SED, die letztlich, und dafür gibt es kaum ein Bewusstsein, einer der ersten Großkonzerne der deutschen Wirtschaft war. Monopolsozialismus und Monopolkapitalismus sind sich da am ähnlichsten, wo sie sich über die Politik und über die Bürger stellen, wenn für sie Opfer gebracht werden, wenn an ihen die Stabilität des Staates hängt. Der Sozialismus ist letztlich nur das Alter Ego unserer Gegenwart. Die Unterschiede kenne ich. Was ist eigentlich mit den Ähnlichkeiten? Der Sozialismus hätte ein Warnschild sein können. Weil er aber als ein Ding der besonderen Art betrachtet wird, hilft uns die historische Erfahrung nicht mehr. Ich habe nichts daraus gelernt. Aus der Erfahrung des Sozialismus ziehe ich nur einen Schluss: Jede Alternative zum Jetzt ist eine falsche. Und das ist schließlich das Ende der Geschichte. Das Ende |206| von Utopie. Die Siegerordnung erklärt die Vergangenheit für einen Fehltritt, einen Ausrutscher, eine Irreführung, Verführung. Eine Ideologie wurde durch die nächste abgelöst. Ganz ohne Systemkonkurrenz. In der Welt gibt es nichts anderes mehr.
Jetzt habe ich keine Angst mehr. Ich könnte in einem Erdloch leben und es wäre in Ordnung. Ehrlich gesagt: Ich scheiß auf eure Ladendetektive.
»Wer im sozialistischen Paradies unterwegs ist, gewinnt den Eindruck, daß die Farbskala auf ein Minimum reduziert wurde. Grau ist die allgegenwärtige Tagesfarbe, abweichende Farben gehörten bei der SED in die Kategorie Subversion oder was auch immer.«
Chemnitz sei »herzlos aufgebaut«, Greifswald »teilruiniert«, und Dresden habe den Titel »Elbflorenz« längst verloren.
Und überhaupt: »Züge und Busse fahren nicht unbedingt dann,
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