Das Paradies der Damen - 11
Bourras blieb inmitten dieses allgemeinen Umsturzes unberührt, hartnäckig eingepfercht zwischen den hohen, von Arbeitern bevölkerten Mauern.
Als am folgenden Tag Denise mit Pépé zu Onkel Baudu ging, war die Straße eben von einer Reihe von Lastwagen versperrt, die vor dem alten Haus Duvillard Ziegel abluden. Auf der Schwelle seines Ladens stand der Onkel und betrachtete mit bekümmerter Miene dieses Schauspiel. In dem Maß, wie das »Paradies der Damen« sich ausbreitete, schien der »Vieil Elbeuf« zusammenzuschrumpfen. Das junge Mädchen fand die Auslagen noch finsterer, noch gedrückter unter dem niedrigen Zwischenstock mit den runden Gefängnisfensterchen. Der Regen hatte das grün angestrichene Firmenschild noch mehr verfärbt, und die ganze bleigraue Vorderseite wirkte trauriger und kümmerlicher denn je.
»Da seid ihr ja«, sagte Baudu. »Nehmt euch in acht, sie werden euch noch über den Haufen fahren!«
Als sie den Laden betraten, empfand Denise dieselbe Beklemmung im Herzen wie damals. Frau Baudu und Geneviève saßen still und stumm an der Kasse; niemand störte sie dort auf.
»Guten Abend, Tante«, sagte Denise. »Ich freue mich so, Sie wiederzusehen, und wenn ich Ihnen Kummer gemacht habe, bitte verzeihen Sie mir!«
Frau Baudu war gerührt und küßte das Mädchen.
»Mein armes Kind«, sagte sie, »wenn ich keinen anderen Kummer hätte, dann wäre ich recht vergnügt.«
»Guten Abend, Kusine«, fuhr Denise fort und gab Geneviève einen Kuß auf die Wangen.
Nun umarmten die beiden Frauen auch noch Pépé, und damit war die Versöhnung vollständig.
Baudu wandte sich jetzt nach dem dunklen Hintergrund des Ladens und sagte:
»Colomban, du kannst ruhig mit uns essen, es kommt doch niemand.«
Denise hatte den Angestellten gar nicht bemerkt. Frau Baudu erklärte ihr, den anderen Verkäufer und das Mädchen hätten sie entlassen müssen; die Geschäfte gingen so schlecht, daß Colomban allein genüge, und auch er verbringe noch ganze Stunden völlig untätig, gähnend vor Langeweile.
Während der Mahlzeit kam der Onkel natürlich auf die Leute von gegenüber zu sprechen. Anfangs zeigte er sich sehr duldsam.
»Mein Gott, du bist ja frei und darfst diesen großen Herren ruhig das Wort reden. Jeder nach seinem Geschmack, mein Kind … Da es dich nicht stört, daß du so einfach vor die Tür gesetzt worden bist, mußt du ja gewichtige Gründe haben, die für diese Leute sprechen; und wenn du zu ihnen zurückgingst, wäre ich dir nicht im geringsten böse. Keiner von uns wäre es, nicht wahr?«
»O nein«, flüsterte Frau Baudu.
Denise sagte ruhig ihre Meinung, wie sie es schon bei Robineau getan hatte; sie sprach von der natürlichen Entwicklung des Handels, von den Anforderungen der Zeit, von der Großartigkeit dieser Neuschöpfungen, von dem wachsenden Wohlstand der Allgemeinheit. Baudu hörte ihr erstaunt zu, und als sie geendet hatte, sagte er kopfschüttelnd:
»Das sind alles Hirngespinste. Handel ist Handel: daran ändert sich nichts. Ich gebe ja zu, daß sie weiterkommen, aber das ist auch alles. Es scheint eben, daß heutzutage die Diebe zu einem Vermögen kommen, während ehrliche Leute elend zugrunde gehen. Ja, so weit haben wir es gebracht! Aber ich bleibe auf meinem Posten, ich gebe nicht nach! Der ›Vieil Elbeuf‹ jedenfalls wird ihnen keine Zugeständnisse machen.«
Er geriet mehr und mehr in Erregung. War denn dieser Riesenapparat nicht langsam lächerlich? Die Kunden würden sich allmählich gar nicht mehr auskennen; warum baute man nicht lieber gleich Markthallen? Dann kam er auf den Umsatz des Warenhauses zu sprechen. Das war doch geradezu unbegreiflich, meinte er: in vier Jahren hatten sie ihn verfünffacht, aus ehemals acht Millionen jährlich waren nach der letzten Inventur vierzig Millionen geworden. Das war doch unerhört, dagegen konnte man ja nicht mehr ankämpfen. Und dabei wuchs das Haus immer weiter: Jetzt hatten sie tausend Angestellte und kündigten achtundzwanzig Abteilungen an. Diese Zahl besonders brachte ihn außer sich. Gewiß hatten sie einige Abteilungen einfach geteilt, aber es gab auch mehrere neue, zum Beispiel eine für Möbel und eine für »Pariser Spezialitäten«. Hatte man je so etwas gehört: »Pariser Spezialitäten«? Besonderen Stolz konnte man ihnen wirklich nicht vorwerfen; sie würden schließlich auch noch Fische verkaufen!
»Wenn du aufrichtig sein willst, kannst du sie unmöglich verteidigen«, wandte er sich an Denise. »Was würdest
Weitere Kostenlose Bücher