Das Paradies ist anderswo
Körper schweißnaß von der Anstrengung, näherte er sich eines Morgens dem Rohrdach, unter dem Paul gerade den Torso eines Mädchens polierte, hockte sich hin und betrachtete ihn mit kindlicher Neugier im Blick. Seine Anwesenheit verwirrte dich, und du wolltest ihn schon vertreiben, aber etwas hielt dich zurück. Lag es vielleicht daran, daß der Junge so schön war, Paul? Ja, auch. Und da war noch etwas, eine vage Ahnung, während du ihm ab und zu einen verstohlenen Blick zuwarfst. Es war einJunge, der sich dieser trüben Grenze näherte, an der Tahitianer sich in taata vahine verwandeln konnten, das heißt in Androgyne oder Hermaphroditen, in jenes dritte Geschlecht, das die Maori im Unterschied zu den voreingenommenen Europäern hinter dem Rücken von Missionaren und Seelsorgern noch immer mit der Natürlichkeit der großen heidnischen Zivilisationen in ihrem Schoß akzeptierten. Oft hatte er versucht, mit Teha’amana über sie zu reden, doch die Tatsache, daß mahus existierten, erschien ihr so selbstverständlich, so natürlich, daß er ihr nicht mehr als ein paar banale Worte oder ein Schulterzucken zu entlocken vermochte. Ja, gewiß, es gab Frau-Männer, na und?
Unter der kupferfarbenen, ins Aschgraue spielenden Haut des Jungen zeichneten sich die gespannten Muskeln ab, wenn er einen Stamm fällte oder ihn auf die Schulter lud und mit ihm bis zu dem Pfad lief, wo der Wagen des Käufers ihn nach Papeete oder in irgendein Dorf bringen würde. Als er sich jedoch neben ihm niederkauerte, um ihm beim Schnitzen zuzusehen, das bartlose Gesicht reckte und seine dunklen, tiefen Augen mit den langen Wimpern weit öffnete, als suchte er hinter dem, was er sah, einen geheimen Grund für die Arbeit, mit der Paul sich abmühte, wurden seine Haltung, sein Gesichtsausdruck, die Bewegung seiner Lippen, die sich öffneten und seine weißen Zähne entblößten, sanft und weiblich. Er hieß Jotefa. Er sprach Französisch gut genug, um ein Gespräch führen zu können. Wenn Paul eine Pause machte, plauderten sie. Der Junge, mit einem kleinen, in der Taille gerafften Stück Stoff bekleidet, das gerade nur seine Hinterbacken und sein Geschlecht bedeckte, bestürmte ihn mit Fragen über diese hölzernen Statuetten, mit denen Paul Eingeborene darstellte und tahitianische Götter und Dämonen erfand. Was an Jotefa zog dich so an, Paul? Warum strahlte er diese Vertrautheit aus, wie jemand, der seit langer Zeit Teil deiner Erinnerung zu sein schien?
Bisweilen blieb der Holzfäller nach der Arbeit bei ihm,um sich mit ihm zu unterhalten, und Teha’amana bereitete auch Jotefa eine Tasse Tee und etwas zu essen. Eines Abends, nachdem der Junge gegangen war, erinnerte sich Koke. Er lief in die Hütte, um die Reisetruhe zu öffnen, in der er seine Sammlung von Photos, Platten und Ausschnitten aus Zeitschriften mit Reproduktionen klassischer Tempel, Statuen, Bilder und Skulpturen aufbewahrte, die ihn bewegt hatten, eine Sammlung, zu der er immer wieder zurückkehrte, wie andere zu ihren Familienerinnerungen. Er sichtete, durchforstete dieses Sammelsurium liebevoll, als ihm ein Photo in die Hände fiel. Da war die Erklärung! Das war das Bild, das dein Bewußtsein, deine Intuition vage mit dem jungen Holzfäller, deinem neuen Freund in Mataiea, identifiziert hatte.
Die von dem Photographen der Zeitschrift L’Illustration , Charles Spitz, aufgenommene Photographie hatte Paul zum ersten Mal 1889 auf der Weltausstellung in Paris gesehen, in dem der Südsee gewidmeten Bereich, den Spitz mitorganisiert hatte. Das Bild hatte ihn so sehr verstört, daß er lange Zeit vor ihm stehengeblieben war, um es zu betrachten. Am nächsten Tag kehrte er zurück, um es wieder anzuschauen, und bat schließlich den Photographen, den er seit Jahren kannte, ihm einen Abzug zu verkaufen. Charles schenkte ihm das Photo. Der Titel, Vegetation in der Südsee , war trügerisch. Wichtig an dem Bild waren nicht die Riesenfarne, auch nicht das Gewirr der verschlungenen Lianen und Blätter auf dem Berghang, von dem ein schmaler Wasserfall herabströmte, sondern die Person mit nacktem Oberkörper und entblößten Beinen, die sich im Profil, im Blätterwerk Halt suchend, hinunterbeugte, um zu trinken oder vielleicht nur um diese Quelle näher zu betrachten. Ein junger Mann? Eine junge Frau? Das Photo ließ beide Möglichkeiten gleichermaßen zu, ohne eine dritte auszuschließen: daß die Gestalt beides war, abwechselnd oder gleichzeitig. An manchen Tagen hatte Paul die
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