Das Paradies ist anderswo
seinen Freund bei der Suche nach dem benötigten Holz zu begleiten, dadurch entwerten. Schließlich nahm er sie auf Pauls Drängen hin an.
»Wie sagt man auf tahitianisch ›geheimnisvolle Wasser‹, Jotefa?«
» Pape moe .«
So würde es heißen. Er begann es am nächsten Morgen zu malen, früh, nachdem er sich die übliche Tasse Tee zubereitet hatte. Die Photographie von Charles Spitz lag in seiner Nähe, aber er schaute sie kaum an, weil er sie auswendig kannte und weil ein besseres Modell für sein neues Bild der nackte Rücken des Holzfällers war, der vor ihm in der dichten Vegetation lief, in einem magischen Raum, den seine Netzhaut unversehrt bewahrt hatte.
Er arbeitete eine Woche an Pape moe . Einen guten Teil der Zeit in diesem seltenen Zustand der Euphorie und Erregung, den er nicht wieder erlebt hatte, seit er Der Geist der Toten wacht gemalt hatte. Nur wenige Auserwählte würden das wahre Thema von Pape moe erkennen; er gedachte nicht, es jemals zu enthüllen, nicht einmal Teha’amana, mit der er nicht über seine eigenen Bilder zu sprechen pflegte, und schon gar nicht in seinen Briefen an Daniel, an Schuffenecker, an die Wikingerin oder an die Galeristen inParis. Sie würden in einem Wald üppiger Blumen und Blätter, zwischen Wasser und Steinen, ein Wesen sehen, das, auf die Felsen gestützt, seinen schönen, schattengesprenkelten Körper zu einem schmalen Wasserfall hinunterneigte, um seinen Durst zu löschen oder dem unsichtbaren kleinen Gott des Ortes zu huldigen. Nur wenige würden das Rätsel erkennen, die sexuelle Unbestimmtheit dieser Gestalt, die ein anderes Geschlecht verkörperte, eine Möglichkeit, die Moral und Religion bekämpft, verfolgt, geleugnet und ausgelöscht hatten, bis sie glaubten, sie sei verschwunden. Sie täuschten sich! Pape moe war der Beweis. In diesen »geheimnisvollen Wassern«, über die sich die androgyne Gestalt des Bildes neigte, triebst auch du, Paul. Das war dir jetzt bewußt geworden, nach einem langen Prozeß, der mit dem Zauber begann, den die Photographie von Charles Spitz bei der Weltausstellung 1889 auf dich ausgeübt hatte, und in jenem Fluß endete, als du Jotefas Rute an deinem Körper spürtest und bereit warst, in jener zeit- und geschichtslosen Einsamkeit seine taata vahine zu sein. Niemand würde je erfahren, daß Pape moe auch dein Selbstbildnis war, Koke.
Obwohl sein Erlebnis bewirkte, daß er sich dem Wilden näher fühlte, der er seit Jahren sein wollte, bereitete es ihm auch ein gewisses Unbehagen. Schwul, du, Paul? Hätte dir das jemand vor Jahren gesagt, du hättest ihm das Gesicht verbeult. Von Kindesbeinen an hatte er sich stets mit seiner Männlichkeit gebrüstet und sie mit Fäusten verteidigt. Auch in seiner fernen Jugend, auf hoher See, in seinen Jahren als Seemann, in den Ladeluken und Schlafkojen der Luzitano und der Chili , den Handelsschiffen, auf denen er drei Jahre verbrachte, und auf dem Kriegsschiff, der Jerôme-Napoléon , auf dem er zur Zeit des Krieges mit den Preußen weitere zwei Jahre diente. Wer hätte damals gedacht, daß du am Ende Bilder malen und Skulpturen schnitzen würdest, Paul? Nicht ein einziges Mal war dir der Gedanke durch den Kopf gegangen, Künstler zu sein. Damals träumtest du von einer großen Karriere als Seebärauf allen Meeren und in allen Häfen der Welt, in allen Ländern und Landschaften, unter allen Rassen, von deinem allmählichen Aufstieg zum Rang eines Kapitäns. Ein ganzes Schiff und seine große Besatzung unter deinem Befehl, Odysseus.
Auf der Luzitano , einem Dreimaster, auf dem man ihn im Dezember 1865 als Schiffsjunge angeheuert hatte, denn er hatte das Aufnahmealter für die Seefahrtschule überschritten, war er von Anfang an gezwungen gewesen, sich mit Händen und Füßen, mit Bissen und mit gezücktem Messer zu wehren, um seinen Hintern unversehrt zu erhalten. Manchen war es egal. Wenn sie zuviel getrunken hatten, prahlten sogar viele Gefährten damit, diesem seemännischen Ritual unterzogen worden zu sein. Aber dir war es nicht egal. Du würdest nie die Schwuchtel von jemandem sein; du warst ein Mann. Auf seiner ersten Reise als Schiffsjunge, von Frankreich nach Rio de Janeiro, drei Monate und einundzwanzig Tage auf hoher See, wurde der andere Schiffsjunge, Junot, ein sommersprossiger, rothaariger Bretone, im Maschinensaal von drei Heizern vergewaltigt, die ihm danach halfen, die Tränen zu trocknen, und ihm versicherten, er brauche sich nicht zu schämen, das sei allgemein üblich
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