Das Paradies
ein unerreichbares Ziel, Dr. Connor, jedes Kind auf der Welt zu impfen!«
»Mit den erforderlichen Mitteln und medizinischen Fachkräften …« begann er, aber man schob ihn in das Polizeifahrzeug, schlug die Tür hinter ihm zu und schloß ab.
»Du hattest recht. Ich bin froh, daß ich mitgekommen bin«, sagte Rachel, als die Menge sich zerstreute und sie zu Amys Wagen zurückgingen. Sie lachte leise. »Mort wird froh sein, daß ich vernünftig genug war, mich
nicht
verhaften zu lassen.« Sie wartete auf der Beifahrerseite, während Amy ihr die Tür aufschloß. »Ich verstehe, daß Dr. Connor sich wundert. Warum gehst du eigentlich nicht nach Ägypten, wenn du schon für die Treverton-Stiftung arbeitest?«
»Rachel, ich habe mir geschworen«, erwiderte Amy, »nie mehr zurückzugehen.«
»Warum denn?«
Amy setzte sich ans Steuer und sah ihre Freundin an. »Rachel, du weißt, ich habe Ägypten mit Schimpf und Schande verlassen. Mein Vater hat mich aus dem Haus geworfen, weil mich ein Mann vergewaltigt hat und ich danach schwanger wurde. Wir haben uns nicht geliebt, wir waren Feinde. Er hatte gedroht, meine Familie sowie deine Großeltern durch brutale Anwendung seiner Macht zu ruinieren, wenn ich mich weigerte, mit ihm zu schlafen. Ich habe mich gewehrt, aber er war stärker. Meine Familie, die ich retten wollte, hat mich nicht in Schutz genommen. Umma, Nefissa, mein Mann und mein Vater haben mich verurteilt. Deshalb bin ich aus Ägypten weggegangen.«
»Weiß deine Familie nicht, daß du keine Schuld daran hattest?«
»In
ihren
Augen bin ich schuldig. In Ägypten geht die Ehre über alles. Eine Frau sollte lieber sterben, als Schande über sich und ihre Familie zu bringen. Man hat mir meinen Sohn weggenommen und mir gesagt, ich sei so gut wie tot. Ich werde nie mehr zu meiner Familie zurückgehen.«
»Woher weißt du, daß es ihnen inzwischen nicht leid tut?« fragte Rachel. »Woher weißt du, daß sie dich nicht zurückhaben wollen? Amy, ich finde, das mußt du zumindest herausfinden. Du kannst dich nicht ein ganzes Leben lang von deiner Familie abwenden, nur weil ein Mann dich vergewaltigt hat.«
Amy beobachtete die vorbeifahrenden Militärfahrzeuge und fragte sich, wohin man das Ehepaar Connor brachte. Sie dachte an Connors Freude, als sie ihm gesagt hatte, sie werde für die Stiftung arbeiten. Vielleicht wollte er sie wirklich umarmen, hatte sich jedoch beherrscht.
»Fehlt dir deine Familie denn nicht, Amy?« fragte Rachel und sah ihre Freundin an, deren blonde Haare sich gelöst hatten.
»Meine Schwester fehlt mir«, antwortete Amy und ließ den Kopf sinken. »Jasmina und ich …, wir haben uns als Kinder sehr nahegestanden.« Sie ließ den Motor an, stieß langsam zurück und reihte sich in die abfahrenden Wagen ein. »Wollen wir in Las Vegas zu Mittag essen?« »O ja!« sagte Rachel lachend. »Dann kannst du mir alles über die Flüchtlingslager erzählen, in die du freiwillig gehst.«
Amy drehte das Wagenfenster herunter und spürte, wie ihr der Wüstenwind mit unsichtbaren Fingern durch die Haare fuhr. Sie holte tief Luft und stellte sich Declan Connor vor. Er war mitreißend und voller Kraft. Seine Stimme und seine Worte glühten noch in ihr. Plötzlich spürte sie, daß ihre Depression wie eine Regenwolke verschwand, die der Frühlingswind vertreibt. Die Leblosigkeit, das tote Land, das sich seit der Nacht, in der ihr Vater die schrecklichen Worte ausgesprochen hatte, in ihr ausbreitete, schien von ihr abzufallen wie eine alte Schale. Darunter kam etwas zum Vorschein, das ihr gefiel, denn es war lebendig, unabhängig und frei von Vorurteilen und lähmenden Bindungen. Sie hatte eine Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und das zu verwirklichen, was sie für richtig hielt. Amy freute sich, daß sie an diesem Morgen in die Wüste gekommen war.
Vor einer Stunde war sie noch ein Gespenst unter den Lebenden gewesen, hatte am Kreuzungspunkt ihrer Entwicklung nicht gewußt, wohin sie sich wenden sollte. Nun lag ihr Weg vor ihr, so klar wie die Linie in der Mitte der Fahrbahn. Der Weg war die Antwort auf Declan Connors Aufruf, die Kinder der Welt zu retten, eine Antwort auf die Sehnsucht nach Kindern, mit der sie vierzehn Jahre lang gelebt hatte. Diese Antwort lag schon seit langer Zeit wie ein lebendiger Keim in ihr, der die harte Schale der Vergangenheit durchstoßen wollte. Das innere Wissen, daß ihr Schicksal bereits vorgezeichnet war, erfüllte sie mit Erleichterung und
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