Das Paradies
wieder hatte sie Anfälle von Beklemmung in der Brust. Das neunte Jahrzehnt ihres Lebens hatte begonnen. Dank der täglichen Disziplin, des ehrlichen Ringens um inneren Frieden, aber auch der sorgfältigen Pflege ihres Körpers hatte sie noch immer ein glattes Gesicht und hellwache Augen. Sie hielt sich so aufrecht wie eine junge Frau und verlangte sich genau soviel ab wie früher. Aber ihre Seele wurde alt, das spürte sie. Wie viele Seiten in Gottes großem Buch waren ihr noch bestimmt?
In letzter Zeit waren mehr Erinnerungen durch die Träume zurückgekommen. Khadija hatte den Eindruck, ihr Leben verlaufe in einer Kreisbahn. Sie schien sich paradoxerweise Tag um Tag mehr dem Anfang ihres Lebens zu nähern. Aber zwischen ihr und den Dingen vor dem großen, unheilvollen Einschnitt schien eine unüberwindliche Wand zu stehen. Beim Näherkommen schien die Wand größer zu werden, immer drohender und unbezwingbarer. Khadijas Angst nahm zu. Seit Jahren hatte sie gesagt: »In diesem Jahr werde ich nach Mekka pilgern.« Aber die Zeit war ihr wie Sand durch die Finger geglitten. Khadija hatte sich oft nach dem Erwachen aus den quälenden Träumen geschworen: »Morgen werde ich aufbrechen«, aber die Wand war wie eine Gefängnismauer und hinderte sie daran, der Wahrheit ihres Lebens auf den Grund zu gehen. Das Haus in der Paradies-Straße bot ihr Tag für Tag einen begründeten Vorwand, die Pilgerreise wieder zu verschieben.
»Rosmarin ist gut gegen Krämpfe«, sagte Jasmina und nahm eine der zartblauen Blüten aus dem Körbchen. Sie saß mit ihrem Sohn im Pavillon. Der sechsjährige Nagib war ein hübscher Junge mit den bernsteinfarbenen Augen seiner Mutter und neigte wie sein Vater zur Rundlichkeit. An seinem Handgelenk war das koptische Kreuz eintätowiert. Aber Jasmina und Jakob erzogen ihn sowohl im christlichen als auch im muslimischen Glauben.
Jasmina hatte nach Nagib keine Kinder mehr bekommen, denn sie wollte ihre Karriere als Tänzerin nicht aufgeben. Jakob war mit einem Sohn und mit Zeinab, seiner Adoptivtochter, zufrieden.
Ihre Ängste vor einer konfliktreichen Zukunft hatten sich als unbegründet erwiesen, auch wenn es immer noch zu Gewaltausbrüchen zwischen Muslimen und Christen kam.
Jasmina und ihr Mann hatten seit der Heirat erstaunliche Erfolge. Die Auflage der Zeitung stieg, und Jakobs Artikel fanden immer mehr Anerkennung. Man hörte auf ihn, vertraute seinem Urteil und achtete seine Meinung. Jasmina war unumstritten zur größten Tänzerin Ägyptens geworden.
Ihre Anhänger hatten sich nach der Hochzeit mit dem Christen Mansour nicht empört von ihr abgewendet, und Jakobs Leser hatten es ihm nicht verübelt, daß er eine Tänzerin heiratete.
»Malesch«,
sagten alle, »macht nichts. Es ist Gottes Wille, daß ihr euch gefunden habt.«
Jasmina warf einen Blick auf die Köstlichkeiten, die aus der Küche gebracht worden waren, aber sie nahm nichts davon. Die Fastenzeit hatte gerade begonnen, und den koptischen Christen war es bis Ostern untersagt, etwas zu essen, das eine Seele besaß. Sie mußten sich auf Bohnen, Gemüse und Salat beschränken – Käse stammte von der Kuh und das Ei vom Huhn.
Jasmina fiel das Fasten nicht schwer, denn sie empfand es als eine wohltuende innere Reinigung. Auf der Bühne »sprach« sie mit ihrem Körper. Sie schonte sich nicht und verlangte sich alles ab. Ihr Leben war durch die Ehe mit Jakob so viel reicher geworden. Er hatte sie in die mystische und schöne Welt eines Volkes eingeführt, das schon vor Mohammed in Ägypten lebte. Die Kopten folgten der altchristlichen Lehre, und ihre Geschichte war reich an Legenden und Wundern: Jakob trug den Namen des ersten Mannes, den das Jesuskind auf der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten geheilt hatte.
Jasmina blickte zu Zeinab hinüber, die mit dem Baby einer Cousine im Arm unter den herabhängenden Ranken der Glyzinie saß. Zeinab war mit zwanzig eine reizende junge Frau. Nur die Beinschiene lenkte von ihrem hübschen Gesicht und dem bezaubernden Lächeln ab.
Sie liebt Kinder, und die Kinder lieben sie, dachte Jasmina.
Ihr kleiner Bruder Nagib hörte sofort auf zu schreien, wenn Zeinab ihn auf die Arme nahm. Seit seiner Geburt war Zeinab so besorgt um ihn gewesen wie eine Mutter. Es muß doch einen Mann geben, der Zeinab heiraten will, der die Behinderung übersieht und ihr liebendes Herz zu schätzen weiß …
Wenn Zeinab lachte oder die hellbraunen Locken zurückwarf, entdeckte Jasmina eine flüchtige
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