Das Paradies
singen. Es waren Liebeslieder, und wie die meiste ägyptische Musik waren sie erotisch und aufreizend. Sie erzählten von leidenschaftlichen Küssen und verbotenen Zärtlichkeiten. Die Frauen hatten diese Lieder schon als unschuldige Mädchen gelernt und in den Gärten, auf den Schaukeln und beim Spielen gesungen, ohne die Bedeutung der Worte zu verstehen: »Küß mich, küß mich, o mein Geliebter. Bleib bei mir, bleib bis zum Morgengrauen. Du sollst mein Lager wärmen, mit meinen Brüsten spielen, und mein Herz soll für dich glühen. Ich will dir auf Ewigkeit meine ganze Liebe schenken …«
Die erste Tänzerin setzte sich nach wenigen Minuten, aber eine andere sprang auf und tanzte weiter. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und ein neue Kreation von Dior, von dem alle Welt sprach. Die Frau schloß die Augen und hob die Arme, während die anderen begeistert von verwegenen Männern und langen Liebesnächten sangen. Bei einer besonders anmutigen Drehung trällerten einige den Zagharit als Zeichen ihrer Anerkennung. Als sie sich setzte, übernahm die nächste ihren Platz. Der Beledi, der Bauchtanz, gehörte zu den Festen der Frauen. Er war ein Ventil für die aufgestauten Gefühle und Ausdruck der geheimen, nicht erlaubten Sehnsüchte. Der Beledi war für jede Frau Ausdruck ihrer ureigensten Persönlichkeit, und deshalb wurden die Tänzerinnen nie kritisiert oder miteinander verglichen. Es gab keine Konkurrenz. Keine galt als besser oder anmutiger, ohne Rücksicht darauf, wie geschickt oder mitreißend sie tanzte. Jede Frau wurde von allen ermutigt und für ihren Beitrag zum Fest gefeiert.
Als Khadija schließlich spontan in die Mitte trat, ihre Schuhe von sich warf und sich auf die Fußspitzen stellte, jubelten die Frauen und feuerten sie mit lauten Rufen an. Sie trug einen engen langen Rock und eine raffiniert geschnürte seidene Bluse, aber die Faszination ging nicht von der Kleidung aus. Sie war eine königliche Erscheinung. Mit fließenden Bewegungen ließ sie die Hüften kreisen und den Körper in schnellen Wellenbewegungen tanzen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Das Furioso steigerte sich noch weiter, bis die Frauen vor Begeisterung aufsprangen. Khadija bedeutete Marijam, sich ihr anzuschließen. Sie taten das schon seit vielen Jahren. Schon als junge Bräute hatten sie gemeinsam getanzt, sich als Duo ergänzt, und ihre Bewegungen und Schritte waren von einer Harmonie und Perfektion, die alle zu ohrenbetäubenden Zagharits hinrissen.
Marijam fühlte sich von allen Fesseln befreit. Der Beledi verband den Körper mit der Seele und führte zu einer Art Euphorie, in die sich die Männer durch Haschischrauchen versetzten. Marijam war vor kurzem dreiundvierzig geworden, eine Woche nach dem Geburtstag ihres ältesten Sohnes, der das große Geheimnis ihres Lebens war, von dem Suleiman nichts ahnte. Nur Khadija wußte um Marijams Geheimnis.
Beim Tanz, dem Klatschen und Zungentrillern des Zagharits verschwanden Marijams Schuldgefühle und ihre Ängste. Sie konnte sich wieder einmal mit gutem Gewissen sagen, daß sie alles für ihren geliebten Suleiman getan hatte.
Marijam war mit achtzehn schon einmal verheiratet gewesen. Aber ihr junger Mann und ihr Kind starben während einer Epidemie, die Kairo heimsuchte. Sie war allein und in tiefer Trauer gewesen, als sie den gutaussehenden Suleiman Misrachi kennen- und lieben lernte. Er war ein reicher Importkaufmann, und die Misrachis gehörten zu den ältesten jüdischen Familien in Ägypten. Als Suleiman seine Braut in das Haus in der Paradies-Straße führte, betete er zu Gott um viele Kinder.
Ein Jahr verstrich und ein zweites und schließlich ein drittes, ohne daß Marijam schwanger wurde. Verstört ging sie zu Ärzten, aber man sagte ihr, es bestehe kein Grund, daß sie keine Kinder haben könnte. Da wußte sie, das Problem lag bei Suleiman. Aber wenn ihm das vor Augen geführt würde, dann wäre er ein gebrochener Mann. Sie hatte mit ihrer Freundin Khadija über ihren Kummer gesprochen, und Khadija hatte sie mit den Worten beruhigt: »Gott wird alles richten.«
Und dann hatte Marijam einen Traum, durch den sie die Lösung fand. Im Traum sah sie das Gesicht von Mussa, Suleimans Bruder, und sie stellte fest, daß die beiden sich so ähnlich sahen wie Zwillinge. Es dauerte einige Wochen, bis sie den Mut aufbrachte, zu ihm zu gehen. Als sie es schließlich tat, hörte er ihre Geschichte mit überraschender Anteilnahme an. Auch er war der Meinung, Suleiman werde
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