Das Parsifal-Mosaik
gerade dort vermuten würde. Nachdem Havelock sich rasiert und gebadet hatte, versuchte er jeden Augenblick in sein Gedächtnis zurückzurufen, den er und Jenna miteinander in Paris geteilt hatten: wohin sie gegangen waren, was sie gesehen, mit wem sie gesprochen hatten, alles in der chronologischen Folge. Schließlich hatte jedes Gesicht, das irgendeine Bedeutung hatte, einen Namen, oder Michael erinnerte sich zumindest an jemanden, der ihn ... oder sie ... kannte.
Und jeden Namen, der ihm einfiel, notierte er sich. Eine halbe Stunde später war die Liste komplett - d. h. so komplett, wie sein Erinnerungsvermögen das zuließ.
Als er dann schließlich nach einem erholsamen Schlaf die ersten Namen anrief, erzählte er jedesmal dieselbe Geschichte: Er hätte sich mit Jenna am Mittag in der Meurice-Bar treffen sollen; sie seien beide aus verschiedenen Städten mit dem Flugzeug nach Paris gekommen, aber seine Maschine hätte sich um mehrere Stunden verspätet. Und da Jenna den Namen der betreffenden Person häufig erwähnt hätte, wollte er sich erkundigen, ob sie sich vielleicht dort gemeldet hätte, um sich in einer Stadt, die sie kaum kannte, eine ortskundige Begleitung für den Nachmittag zu suchen. Die meisten waren leicht überrascht, von Havelock zu hören, besonders, wo es so beiläufig geschah -und noch überraschter, daß Jenna Karras sich an ihren Namen erinnert hatte. Im großen und ganzen waren sie nämlich nur oberflächlich mit ihr bekannt. Aber in keinem einzigen Fall verspürte er auch nur das geringste Zögern oder eine verdächtige Nervosität in der Stimme. Achtzehn Namen - und kein Hinweis auf Jenna. Wo hielt sie sich versteckt? Er erreichte die Rue Ravignon und begann den steilen Aufstieg zum MontmartreHügel. Die Seitengasse von der Rue Norvins, die Gravet ihm geschildert hatte, lag unmittelbar vor der engen Rue des Saules. Sie war finster und menschenleer. Die Besucher des Montmartre wußten schon, warum man sie besser mied. Ein Überfall auf dem heiligen Berg der Märtyrer unterschied sich nur wenig von einem Schlag mit einem gummiumwickelten Eisenrohr in Soho oder St. Pauli. Als Havelock in die Gasse bog, tastete seine rechte Hand instinktiv nach seinem Gürtel, wo die Magnum steckte. Gravet hatte sich verspätet, eine Unhöflichkeit, die ganz untypisch für den Kritiker war. Was war geschehen?
Michael lehnte sich gegen eine Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Nervös sog er den Rauch ein und wartete. Von der Rue Norvins drang plötzlich heftiger Lärm in den dunklen Durchgang, als zwei Männer sich in die Haare gerieten. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt stand aufrecht da, einen Augenblick lang unbewegt, und ihren Lippen entströmte ein Schwall französischer Schimpfworte. Der viel jüngere, untersetzte Widersacher machte ein paar zynische Bemerkungen über die Vorfahren des Älteren und ging weiter. Der andere strich sich angewidert die Revers glatt, bog nach links und trat in die Gasse. Gravet war eingetroffen.
»Merde!« stieß der Kritiker aus, als er Havelock aus dem Schatten he rvortreten sah. »Diese dreckigen Typen in ihren schmuddeligen Parkas! Bei denen weiß man nie, woran man ist. Deshalb auch meine Verspätung.«
»Sind doch nur ein paar Minuten.«
»Ich wollte schon vor einer halben Stunde in der Rue Norvins sein, um mich zu vergewissern, daß Ihnen niemand gefolgt ist.« »Man ist mir nicht gefolgt.« »Ja, Sie würden das merken, nicht wahr?« »Ganz gewiß. Was hat Sie aufgehalten?«
»Ein junger Mann, den ich mir herangezogen habe. Er arbeitet in den Katakomben des Quai d'Orsay.« »Seien Sie ehrlich!«
»Und Sie verstehen das falsch.« Gravet trat an die Wand und blickte nach rechts und links, zu den beiden Ausgängen der Gasse. Erst dann fuhr er fort: »Seit Sie nach Ihrem Besuch im >Couronne Nouvelle< angerufen haben, war ich mit jeder Person in Verbindung, die vielleicht etwas über eine einsame Frau in Paris wissen könnte, die Unterschlupf oder Papiere oder eine Transportmöglichkeit sucht, und niemand konnte mir helfen. Selbst in den Italienervierteln habe ich mich umgesehen, weil ich dachte, ihre Begleiter vom Col des Moulinets hätten ihr vielleicht ein oder zwei Adressen gegeben. Auch Fehlanzeige. Und darin kam ich darauf. Vielleicht suchte eine Frau wie sie auf ganz legalem Weg Hilfe, ohne notwendigerweise ihre eigenen Motive zu offenbaren. Schließlich war sie eine erfahrene Agentin. Sie muß doch bestimmte Personen in Regierungskreisen kennen,
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